Duenne Haut - Kriminalroman
zwischen dem, was gefeiert wurde, und dem, was passierte.“
„Was ist passiert?“
Sie lacht. Wirft sich prustend aufs Bett. „An meinem einunddreißigsten Geburtstag, genau an meinem einunddreißigsten Geburtstag nahmen sie mir die Kinder weg. Befreiten mich von dieser Last. Befreit, entlastet, entlastet, befreit…“ Ihr Oberkörper schießt hoch, ihr Lachen gefriert. „Was für ein Geschenk, Tone, was für ein tolles Geburtstagsgeschenk das war!“
Ihre Stimme klingt jetzt dünn und brüchig. Als wäre sie ein verschrumpeltes Weiblein, das nur noch winseln kann über vergangene Zeiten.
„Was wird einem erfüllt im Leben? Nichts! Das eigene Kind wendet sich von dir ab im Schlaf, wenn du zu ihm unter die Decke kriechst. Verzieht angewidert den Mund, wenn du es küssen möchtest. Und dein Mann? Er schnarcht, verbarrikadiert sich hinter seinem Federbettpanzer, wenn dir nach Haut und Herzschlag ist.“ Sie stockt. Dann die Frage, die er nicht versteht, geschweige denn beantworten kann:
„Was denkst du: Ist Cerberus nur zuständig für die Pforte, die hineinführt in die Hölle, oder auch für jene, die herausführt aus ihr?“
Zusammengesunken liegt sie da, der Rücken gekrümmt, die Arme vornübergestreckt, wie in einer Anbetung. Langsam, sehr langsam richtet sie sich wieder auf, beginnt an ihrem Gewand herumzunesteln …
Hagen weiß nicht, wie ihm geschieht. Er ist zu verblüfft, um etwas zu sagen, um sie davon abzuhalten.
Jacke, Bluse und BH fallen zuerst, dann der blaue Rock, die schwarzen Strümpfe, zuletzt der Slip. Mechanisch legt sie jedes Stück ab, ohne ihn, der noch immer auf seinem Sessel klebt, eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Splitternackt steht sie vor ihm. Ihre Brustwarzen sind auf ihn gerichtet wie der Zeigefinger von Uncle Sam:
I want you for US Army
.
Er fühlt sich völlig überfordert.
Du kennst zwar nicht einmal die En passant-Regel, hast aber dennoch auf Anhieb den richtigen Zug gefunden. Das nenne ich wahre Intuition!
Praders lobende Worte, als Hagen das Schachproblem löste. Er wünschte, er hätte diese Intuition auch jetzt, wo es darauf ankommt. In einer Situation, die absolut neu ist für ihn.
Neu, nicht erotisch …
Neurotisch!
„Haut auf Haut“, stöhnt sie, „das ist es, was ich brauche. Willst du mich festhalten, ganz fest?“
In dem Moment sieht er sie. Die Serie parallel verlaufender Vertiefungen und Wölbungen – schlecht verheilte Narben, die Marie Thereses Handgelenke säumen.
Wortlos ist er zurückgezuckt, nur für den Bruchteil einer Sekunde, ohne es selbst zu merken.
Sein Zucken trifft ihren Körper wie ein Hieb,
Jetzt nicht, jetzt nicht, mein Schatz, ich bin beschäftigt, ich muss gleich weg, aber danach, danach, du wirst sehen
. Ihre Schultern ziehen sich zusammen.
Mama da!
, krächzt es, kreischt es in ihr, aber Mama ist nicht da, war nie da, Abwesenheit und Zurückweisung sind eins, tausend Einschläge sind verschmolzen in dieser seit Urzeiten geschändeten Landschaft, in der sich Krater an Krater reiht.
Was Wunder, dass keiner sich daran erwärmen mag …
„Kastriertes männliches Schwein“, sagt sie tonlos, „gezüchtet, um geschlachtet zu werden.“
Er glaubt, sich verhört zu haben.
„Nicht hier, nicht jetzt. Jetzt nicht! O nein. Was jetzt, Willie, was jetzt? Wenn alles sonst den Bach runter geht, ist da immer noch meine Geschichte. Winnies Geschichte …“
Er packt sie an den Oberarmen. „Du redest wirres Zeug, Marie Therese! Es tut mir leid, aber zieh dich jetzt an. Du musst dich sofort anziehen – bitte!“
Sie zittert. Er wendet sich ab.
„Willie!“, flüstert sie, und noch einmal: „Willie!“
Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, dreht er sich wieder um.
27 V ERRAT
Sachs. Ein Würstchen mit weißem Mantel! Ich brauchte nur ja zu sagen, schon war er zufrieden. Was interessiert den Eitlen die Wahrheit! Aber er hat mich auf eine Idee gebracht: Ein Besuch zu nachtschlafender Zeit – da lässt manches sich klären.
Sie sind voller Zorn, sagte die Bayer. Voller Zorn.
Wieder eine ihrer Ungenauigkeiten. Ich habe immer gewusst, was Zorn und Wut unterscheidet: Der Zorn ist männlich und er kommt von oben. Der heilige Zorn der Kirchenväter. Der Zorn Gottes auf das Volk Israel …
Die Wut kommt aus der Tiefe. Sie ist dumpf. Rasend. Maßlos.
O ja, es gibt ein Menschenrecht auf Raserei!
Wer will mich aufhalten? Die Polizei? Ha! Diesmal ist es an der Raserin, die Polizei zu stoppen.
Alle waren sie Polizisten:
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