Duenne Haut - Kriminalroman
habe sie auch Blätter aus ihrer Krankengeschichte entwendet; jedenfalls seien die betreffenden drei Seiten seit der Freitagssitzung nicht mehr aufzufinden.
„Was dem Fass aber den Boden ausschlägt: In der letzten Woche hat sie sich doch tatsächlich nächtens in mein Schlafzimmer eingeschlichen!“ Sein Tonfall drückt aus, welches Sakrileg hier begangen wurde.
„Haben Sie sie dabei beobachtet?“, fragt Selzer.
„Nicht direkt. Ich hatte schon geschlafen und wurde durch eigenartige Geräusche geweckt. In der Dunkelheit konnte ich nur Schemen erkennen. Aber ich erkannte ihr Parfum wieder. Und als ich sie direkt konfrontierte, gab sie es zu.“
Sigrid durchbricht das nachdenkliche Schweigen. „Wann genau hat sie sich bei Ihnen eingeschlichen?“
„In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag.“
„Und das ist der Hauptgrund, dass wir sie jetzt entlassen sollen?“
Ein süffisantes Lächeln umspielt seine Lippen. „Nicht
wir
, liebe Kollegin! Die Entlassung auszusprechen obliegt immer noch dem Chefarzt. Ich möchte hier nur die Meinung des Kollegiums hören.“
Sigrid spürt, wie die roten Flecken sich wieder in ihrem Gesicht auszubreiten beginnen.
„Dann … dann bin ich der Meinung, dass wir Marie Therese noch eine Chance geben sollten.“
Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Staunend die meisten, aufmunternd die von Westhäußer.
Sachs versucht erst gar nicht, eine gewisse Häme zu verbergen.
„Irre ich mich, oder haben nicht gerade
Sie
darauf gedrängt, diese Frau möglichst schnell loszuwerden, Kollegin Bayer?
Entweder sie geht oder ich
– waren das nicht Ihre Worte?“
Sigrid schweigt.
„Nun denn. Wie erklären Sie Ihren Sinneswandel?“
Sie schweigt verbissen weiter.
„Tja“, sagt Sachs. Er mustert ein Gesicht nach dem anderen. „Gibt es noch jemanden, der sich der Meinung von Kollegin Bayer anschließt? Ihrer – wohlgemerkt – nicht sonderlich begründeten Meinung.“
Wieder dieses Lächeln. Ein Dolch in ihren Unterleib. 3 D, der Gott in Weiß. Erhaben, abgehoben. Der sich schamlos mokiert über die
liebe Kollegin
und ihre
nicht sonderlich begründete Meinung
. Der sich nimmt, was immer er braucht.
Der
sie
nimmt,
sie
missbraucht …
„Ich
habe
eine Begründung, Dr. Sachs“, sagt sie. Plötzlich ist alles ganz klar, ganz einfach. „Es war nämlich nicht Marie Therese, die am Mittwoch bei Ihnen eingedrungen ist.“
„Nein?“, sagt er. „Und woher wollen Sie das wissen, meine Teuerste?“
„Weil ich es war. Und nennen Sie mich nie wieder Ihre Teuerste! Ich finde das reichlich unpassend, nachdem Sie sich vorletztes Silvester an mir vergriffen haben!“
Ein kollektives Ausatmen des Teams fegt durch den Raum.
„Was habe ich?“ Sachs hüstelt.
„Sie haben mich in Ihrem Büro vergewaltigt, Dr. Sachs! Nach der Party, als Sie mich angeblich heimbringen wollten. Das werden Sie doch nicht vergessen haben, auch wenn es schon zwei Jahre her ist? Ich habe es jedenfalls nicht vergessen. Ich habe mir letzte Woche den Generalschlüssel geholt und Ihnen beim Schlafen zugesehen. Sie haben sehr unruhig geschlafen, haben gestöhnt und um sich geschlagen. Was Sie gerochen haben, war
mein
Parfum. Zufällig verwende ich dasselbe wie Marie Therese, das hat sie mir sogar einmal vorgeworfen.“
Er kann sich gut beherrschen. „Und Sie glauben, dass Ihnen das irgendjemand hier abnimmt?“ Er blickt von einem zum anderen, bei Selzer hält er inne.
„Na, Herr Kollege! Kommen uns solche Vorwürfe nicht bekannt vor?“ Er zeigt seine blütenweißen Zähne.
„Na ja“, sagt Selzer bedächtig. „Kollegin Bayer ist nun aber keine schwer gestörte Patientin …“
„Ich wage keine Diagnose!“, schnaubt Sachs.
„Was sollte ihre Motivation sein?“
Guido Westhäußer hat die Frage ganz sachlich in den Raum gestellt. So sachlich, wie es sich für einen Arzt geziemt. Oder für einen Polizisten.
„Wir kennen und schätzen Sigrid Bayer seit Jahren. Sie ist alles andere als krank, sondern eine höchst kompetente Mitarbeiterin dieses Hauses.“
„Sie kennen auch mich seit Jahren“, schreit Sachs, „und ich bin der Chef dieses Hauses! Alleine Ihre Fragestellung ist infam!“
„Wer outet sich schon gerne“, setzt Westhäußer ungerührt fort. „Auch ich habe es bis zum heutigen Tage nicht gewagt zuzugeben, dass ich schwul bin. Keine Frau stellt sich zum Spaß als Vergewaltigungsopfer hin und macht ihren Vorgesetzten grundlos dafür verantwortlich.“
Betretenes Schweigen.
Sachs wendet
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