Dunkelziffer
fühlt.«
Gunnar Nyberg war gut über fünfzig - das war eine Vermutung, niemand kannte sein genaues Alter -, und im vergangenen Jahr hatte er, nach einem Leben, das den Weg vom aggressiven steroidstrot zenden Bodybuilder über Ehefrau enmisshandler und büßenden Kirchenchorsänger zum abgespeckten Ersten Liebhaber umfasste, einen Menschen getötet. Und nicht in Notwehr, sondern zielbewusst und kalkuliert. Um eine kleine Chance zum Weiterleben zu haben. Und die Früchte des Glücks zu genießen, das er mit seiner neuen Frau Ludmila erleben durfte.
Das war eine lange Geschichte.
»Ich glaube, du hast völlig recht«, sagte er.
»Wie?«, sagte Lena sehr verwundert.
»Ich nehme meine frühere Aussage zurück. Alter ist keine numerische Frage.«
Gunnar wandte sich an Sara: »Aber du, meine Schöne, wie zum Teufel kommst du auf die Idee, ausgerechnet mich alt und bitter zu nennen?«
»Ich habe nur gefragt«, sagte Sara versöhnlich.
»Das hast du eben nicht. Dass du ein Fragezeichen hinter deine grobe Attacke gesetzt hast, macht sie noch nicht zur Frage.«
»Okay«, sagte Sara. »Der jüngere Gunnar Nyberg hätte keinerlei Probleme gehabt, die vielen Anhaltspunkte zu erkennen. Ich wollte dich nur wecken, Gunnar. Ich weiß, dass zwischen Chios und Saltbacken ein gewisser Unterschied besteht, aber bis zu deinem Urlaub ist noch ein guter Monat Zeit.«
Gunnar Nyberg nickte und musste wiederum zugeben, dass die weibliche Gesprächspartnerin recht hatte.
Aber es war Lena Lindberg, die begann: »Jetzt ist der Tag danach; es ist drei Minuten nach zwölf frühmorgens am fünfzehnten Juni. Vor ziemlich genau elf Stunden ist die vierzehnjährige Emily Flodberg von dem restaurierten Bauernhof Gammgärd in Saltbacken im südlichen Ängermanland verschwunden. Der Hof gehört einem Bauern aus dem Dorf, Arvid Lindström, der hin und wieder eine Anzeige in die Großstadtpresse setzt. Wie die Entscheidung zustande kam, ist noch nicht ganz klar, jedenfalls fiel eine solche Anzeige einer Gruppe von Eltern ins Auge, die nach einem Reiseziel für die Klassenfahrt der Siebten suchten, wobei der Entschluss Ende März gefasst wurde. Es war in der Gegend also fast zwei Monate bekannt, dass über zwanzig Vierzehnjährige kommen würden.«
»Gefundenes Fressen für die lokale Pädophilenmafia«, sagte Gunnar Nyberg.
»Von der man natürlich nichts gewusst hat«, sagte Lena Lindberg, »und über deren Existenz man auch nicht unterrichtet wurde.«
»Dann sollte man sich fragen«, sagte Sara Svenhagen, »ob man das wirklich eine >Mafia< nennen kann. Es ist noch nicht ganz geklärt, aber im Moment deutet nichts darauf hin, dass sich die drei nicht rein zufällig in diesem Umkreis von hundert Kilometern angesiedelt haben.«
»Die ortsbekannten Sorgenkinder sind also Robert Karlsson, Carl-Olof Strandberg und Sten Larsson«, las Gunnar Nyberg von einem Papier ab. »Keiner der drei war zu Hause, als die lokale Polizei gestern bei ihnen war. Nach allen dreien wird gefahndet.«
»Um 12.50 Uhr wurde Emily zum letzten Mal gesehen«, sagte Lena Lindberg, »und zwar von ihrer Klassenkameradin Anki Arvidsson.«
»Anki - heißt die so?«, fragte Sara.
»Das ist ihr Taufname, ja. Ich habe extra nachgefragt. Kein Mädchen heißt heute noch Ann-Katrin oder so ähnlich. Diese Anki hat jedenfalls gesehen, dass Emily allein auf dem Bett in ihrem Zimmer lag, das sie mit Felicia Lunden und Vanja Persson teilt. Sie schrieb in ein Heft, das Anki für ein Tagebuch hielt. Sie sah, Zitat: >richtig froh< aus. Dieses Tagebuch ist nicht wieder aufgetaucht. Was darauf hindeuten könnte, dass sie es mitgenommen hat. Was wiederum darauf hindeuten könnte, dass sie aus freien Stücken gegangen ist. Aber es ist natürlich zu früh, um dazu etwas Vernünftiges zu sagen. Als die Klasse sich um ein Uhr zum Vorlesen versammelte, fehlte sie, was um 13.08 Uhr festgestellt wurde, worauf die Klassenlehrerin Astrid Starbäck den selbsternannten Leiter der Klassenfahrt, Marcus Lindegren, informierte, der, statt die Polizei zu rufen, alle zu einer Art Suchaktion zusammentrommelte. Die begann etwa um 13.15 Uhr, und um 13.55 Uhr versammelten sich alle wieder auf dem Hof. Erst dann wurde die Polizei verständigt.«
»Wie groß ist eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass drei polizeilich bekannte Pädophile sich >zufällig< am gleichen Ort niederlassen?«, fragte Gunnar Nyberg.
»Leider gibt es ziemlich viele«, sagte Sara Svenhagen.
»Und diese drei, was sind das für
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