Dunkelziffer
dunkel werden wollte.
Reicht die Mitternach tssonne bis hinunter nach Änger manland?, dachte sie und betrachtete die beeindruckenden Wolkenformationen, die in einem tiefen Orange glühten. Obwohl es windstill zu sein schien, war eine Bewegung am Himmel, unterschiedliche H immelsschichten, die sich inein anderwälzten wie zähflüssiges Hexengebräu. Es war ein tiefer, drückender Himmel, der das kleine Dorf gleichsam in eine Kuppel einschließen wollte, ein Stück Universum, abgetrennt vom Rest der Welt.
Sara Svenhagen erschauerte. Sie hätte es auf die Abendkälte schieben können, aber das hätte bedeutet, all dem anderen, was auch in dem Schauder enthalten war, auszuweichen.
Und auszuweichen war nicht ihre Art.
Dagegen erlaubte sie sich eine Reise in die Vergangenheit. Nicht besonders weit, aber ein paar Stunden genügten schon, um das Gefühl zu haben, in einer anderen Epoche zu sein. Da befand sie sich noch in einem relativ beschützten - und relativ beschäftigungslosen - Großstadtleben. Die Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei, besser bekannt als A-Gruppe, hatte in der letzten Zeit nicht gerade Lorbeeren eingeheimst auf internationaler Ebene. Es lief ein bisschen schleppend.
Bis zu dem Augenblick, als ein blühend rosiges Gesicht ins Zimmer der Kriminalkommissarin Kerstin Holm im Polizeipräsidium auf Kungsholmen in Stockholm geschaut und mit unverwechselbarer Wortwahl geprustet hatte: »Jetzt passiert was, meine lieben Mädels. Darauf verwette ich meinen kleinen Schinken.«
Wenn man bedachte, dass Gunnar Nyberg unter den drei Anwesenden war, offiziell der größte Polizist Schwedens, dann war die Anrede vielleicht nicht ganz glücklich gewählt. Anderseits waren glücklich gewählte Worte nicht die starke Seite des Abteilungsleiters Waldemar Mörner. Was tatsächlich seine starke Seite war, blieb sowieso im Dunkeln. Aber er war eben der Chef der A-Gruppe. Eine rein formale starke Seite.
Kerstin Holm dagegen war die operative Chefin, und das war etwas ganz anderes. Sara Svenhagen, die als Vierte im Zimmer war, hatte immer das Gefühl, dass etwas beinahe Magisches geschah, wenn beide Chefs im selben Raum waren. Das Vage und Undefinierte des Daseins wurde plötzlich glasklar und wohldefiniert - zum Beispiel Begriffe wie Qualität und Kompetenz.
Kriminalkommissarin Kerstin Holm betrachtete die blühende Miene mit schmalen Augen und sagte: »So klein ist er nicht.«
»Was?«, keuchte Walde mar Mörner und trat ins Zimmer.
»Der Schinken«, verdeutlichte Holm. »Außerdem müsstest du zwei haben«, sagte Gunnar Nyberg.
Mörner klopfte sich genüsslich aufs Hinterteil. »Zwei Trainingseinheiten pro Tag, meine Damen.«
»Eine für jeden Schinken«, sagte Nyberg.
»Was passiert denn?«, fragte Kerstin Holm.
»Passiert?«, sagte Mörner und sah von seinen wohlgeformten Schinken auf.
»Du hast gesagt, jetzt passiert was«, verdeutlichte Nyberg.
Waldemar Mörner sah aus, als hätte ihn eine Offenbarung oder auch ein Schlag getroffen; er beugte sich mit bedeutungsschwerer Miene über Kerstin Holms Schreibtisch und sagte: »Ängermanland.«
Die Pause, die folgte, war in Mörners Augen vermutlich elektrisch geladen. Die anderen warteten auf die Fortsetzung. Die kam.
»Ein vierzehnjähriges Mädchen aus Stockholm ist abgängig. Auf einer Klassenfahrt nach Ängermanland. An einem Ort namens Saltbacken, direkt am Ängermanfluss. In der Gegend von Sollefteä.«
»Was heißt abgängig?«, fragte Kerstin Holm.
»Das ist es eben«, nickte Mörner. »Besondere Umstände.«
»Sie müssen sehr besonders sein, wenn der Fall auf dem Tisch der A-Gruppe landet. Verschwundene Personen sind sonst nicht unser Gebiet.«
»Normalerweise nicht«, sagte Mörner. »Aber wir haben dort internationale Präsenz. In der fraglichen Zeit sind in der Nähe mehrere Fahrzeuge gesehen worden, die im Baltikum registriert sind. Aber nicht nur das.«
»Sondern...?«
»In der Gegend halten sich drei aktenkundige Pädophile auf.«
»Drei?«, stieß Gunnar Nyberg aus.
»Drei«, nickte Mörner zufrieden. »Zwei verurteilt, einer angeklagt, aber freigesprochen. Die Kombination mit der baltischen Fahrzeugkolonne lässt nichts Gutes ahnen. Aber du, Kerstin, bist natürlich die operative Chefin.«
Genau, dachte Sara Svenhagen. Das ist die starke Seite von Waldemar Mörner: Er mischt sich selten ein in polizeiliche Entscheidungen.
Kerstin Holm nickte, nahm Block und Bleistift
Weitere Kostenlose Bücher