Dunkelziffer
wattiert. Die Hälfte des Raumes wurde eingenommen von einer Art Käfig mit Gitterstäben vom Boden bis zur Decke. Im Inneren des Käfigs befand sich ein am Boden befestigtes Bett ohne Matratze. Auf diesem Bett hatte er gesessen, seit er mit einem dicken Brummschädel erwacht war. Und das musste vor ungefähr fünf Minuten gewesen sein.
In der seltsamen Luftigkeit der Wand öffnete sich eine unsichtbare Tür. Als sie aufging, sah er, wie dick die Wand, wie dick die Luftigkeit war. Fast dreißig Zentimeter.
Drei Personen kamen herein. Zuerst ein dünner, etwas anämischer Mann um die fünfundvierzig Jahre. Danach ein gröberer, fleischiger Mann ungefähr im gleichen Alter und mit vier Fingern an der linken Hand. Und schließlich kam eine zarte blonde Frau in den Dreißigern, nicht mehr zerzaust und lehmbekleckert, sondern mit einer wohlgeformten Pagenfrisur.
Christine Clöfwenhielm sagte: »Gut, dass du aufgewacht bist, Paul Hjelm. Wir müssen reden.«
Hjelm betrachtete die kleine Einstichstelle in seiner Armbeuge und sagte mit rauer Stimme: »Wo bin ich?«
»In unseren Räumen«, sagte Clöfwenhielm. »Keine Sorge, du bist in Sicherheit. Und die Wände sind absolut schallisoliert, es hat also keinen Sinn, zu schreien oder Lärm zu machen.«
»Das ist absoluter Irrsinn«, stieß Hjelm aus. »Ihr habt mich also betäubt, gekidnappt und in einen Käfig gesteckt?«
Die drei zogen Stühle von der Wand heran und setzten sich direkt vor das Gitter, das vom Boden bis zur Decke reichte, mindestens vier Meter in die Höhe.
»Du bist zu nahe gekommen«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Wir stehen kurz vorm Ziel, nicht mehr lange, und es wird viel geschehen. Du solltest uns mit deiner Neugier nicht stören.«
»Neugier? Ich bin Polizist, verdammt. Ich muss Verbrechen verhindern. Und ihr begeht Verbrechen. Fac ut vivas. Fuck off.«
»Wir sind immer die Hüter der Lebenskraft gewesen«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Schon seit Rigmondo 1742 als lebendes Zeichen der Lebenskraft nach Schweden kam.«
»Was habt ihr mit ihm vor? Leichenschändung? Nekrophilie?«
»Du hast ein falsches Bild von uns. Fac ut vivas begann als eine libertinäre Gesellschaft, mit Mitgliedern beiderlei Geschlechts, zur Verteidigung einer freien, vitalen und grenzenlosen Sexualität. Andreas Clöfwenhielm vor allem hat sich genau mit den alten Hieros-Gamos-Ritualen vertraut gemacht, und man hat - in einer äußerst harten und kargen Welt - versucht, eine Atmosphäre innerer Wärme herzustellen, auf der selbstverständlichen Grundlage gleichberechtigter Sexualität. Liebe und Monogamie, wenn man so will, selbstverständlich, aber nicht nur. Heterosexualität und Missionarsstellung, wenn man so will. Aber nicht nur. Alles war erlaubt, und nicht zuletzt mithilfe von Rigmondos unendlichem Potenzial konnte man sehr viel erforschen. Ich bezweifle, dass es jemals eine andere schwedische Ordensgesellschaft gegeben hat, die so viele Grenzen ausgeweitet hat wie Fac ut vivas. In der Frühzeit versuchte die Gesellschaft, die menschliche Sexualität möglichst weitgehend zu erfassen, und dann entdeckte sie mehr und mehr, dass es eine tiefe Kluft darin gab.«
»Was sind Hieros-Gamos-Rituale?«, fragte Paul Hjelm.
»Sakrale Hochzeitszeremonien«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Fruchtbarkeitsriten, die den Menschen durch die Geschichte begleitet haben. Nichts ist so heilig gewesen wie die Fruchtbarkeit, nichts so sorgsam gehütet worden wie die Sexualität. Erst in unserer Zeit ist sie zu etwas Sekundärem gemacht worden, einer Handlung unter anderen, der man sich gelegentlich widmet, falls man dazu die Kraft hat. Aber selbst in diesen grimmigen Zeiten wissen wir, wenn wir nachdenken, welche Energie die Sexualität verleiht. Sie ist die Kraft, die uns erhebt, die unsere Schritte schweben lässt. Sie ist die Lebenskraft selbst. Das war es, was Andreas und das frühe Fac ut vivas im Laufe der Zeit entdeckten. Und sie entdeckten, dass sie pervertiert werden kann. Wir sind keine moralische Vereinigung mit dem Ziel gesunder und nüchterner Sexualität, im Gegenteil. Wir bejahen alle Formen der Expansion und Erneuerung. Solange sie im Endeffekt lebensbejahend sind, solange die Lebenskraft eine Lebenskraft und keine Todeskraft ist. Man kann sich Experimenten widmen, zum Beispiel Fesseln und Rollenspielen, und es als Würze in die Lebenskraft einfließen lassen. Aber dann geht man ein größeres Risiko ein, ist man dem Punkt etwas näher, an dem die Lebenskraft
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