Dunkelziffer
zur Todeskraft wird. Und zugleich mit der Entwicklung von Fac ut vivas wurde es zu einem Bestandteil unserer Politik, die Lebenskraft voll zu bejahen, aber über die Grenzzone zur Todeskraft zu wachen.«
»Das klingt nach Freud«, sagte Hjelm. »Lebens- und Todestrieb. Freud, erstes Kapitel, Grundkurs.«
»Aber wir waren vor ihm«, sagte Christine Clöfwenhielm und lächelte.
Paul Hjelm spürte, dass er es nicht lassen konnte, mit ihr zu lächeln, trotz der etwas prekären Situation, in der er sich befand.
Prekäre Situation?, dachte er und musste lachen. Zum Teufel, ich bin noch nicht ganz tot.
»Das Einfachste ist doch das, was wir heutzutage machen«, sagte Christine und beobachtete den lachenden Gefangenen mit amüsiertem Blick. »Nämlich einfach auf die Lebenskraft zu pfeifen. Sie in Klammern zu setzen und nur zu überleben. Die Sexualität einen unentbehrlichen, aber eher unerwünschten Teil des Daseins sein zu lassen. Ein bisschen Sex als Extra nach einem guten Essen. Ein Sahnehäubchen auf dem Brei. Das Pünktchen auf dem i. Nicht aber, sie als grundsätzliche Triebkraft in ein Leben einfließen zu lassen, das wirklich lebt. Das ständig vital ist.«
»Ist das nicht eine unbillige Forderung in einem ziemlich hektischen Alltag?«, fragte Paul Hjelm.
»Im Gegenteil«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Wie sollen wir einen ziemlich hektischen Alltag ohne Lebenskraft durchstehen? Das ist der Grund, weshalb wir zusammenbrechen. Deshalb sind heutzutage alle ausgebrannt und haben Nervenzusammenbrüche. Weil wir nicht eins sind mit unserer innersten und tiefsten Triebkraft.«
Sie hielt inne und sah ihre Kollegen an, die links und rechts neben ihr saßen, jeder auf seinem Stuhl, eine graue und eine rote Gestalt, eine dünne und eine breite.
»Was habt ihr mit mir vor?«, fragte Paul Hjelm schließlich. »Ihr könnt mich nicht freilassen. Ich weiß, wer du bist, Christine. Ich weiß, wo du wohnst. Ihr werdet mich töten, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte Christine Clöfwenhielm. »Wir mussten dich nur in deinem blinden Vorpreschen für einen Moment bremsen. Wir stehen vor entscheidenden Ereignissen.«
»Aber dann erwische ich dich doch, sobald ich freikomme.«
»Ich habe Nachforschungen über dich anstellen lassen, Paul Hjelm«, sagte Christine. »Uns steht ein Stab der absolut avanciertesten Internettechniker Schwedens zur Seite. Wir sind der Polizei ständig weit, weit voraus. Und vermutlich bewirken wir mehr.«
»Und was glaubst du über mich zu wissen?«
»Was du gefühlt hast, als du heute Morgen zu mir kamst. Ich kenne mich mit dieser Lebenskraft inzwischen ganz gut aus, ich kann sie zum Beispiel in menschlichen Stimmen erkennen. Ich hörte, wie sie erwachte, als wir heute Nacht miteinander telefoniert haben. Das Müde wird vital, allein durch meine Stimme. Das war für mich der Anlass, dich ein wenig überprüfen zu lassen. Du hast deine Frau Cilla aufgrund von Diskrepanzen in eurer jeweiligen Lebenskraft verlassen, oder? Du hast deine Lebenskraft bei einer Frau namens Christina wiedergefunden.«
»Woher wisst ihr von Christina?«, entfuhr es Hjelm.
»Man kann ziemlich leicht alte E-Mails wiederfinden. Alles, was ins Netz geht, bleibt da, in irgendeiner Form. Aber nach Christina ist die Lebenskraft in dir in gewisser Weise verkümmert. Korrigiere mich, wenn ich mich irre. Es wurde zu schwierig. Du hast nicht den richtigen Weg gefunden. Die Frauen verhielten sich nicht so, wie du es wolltest. Du hast falsche Schlüsse gezogen. Dass es für dich keine Frau gibt. Dass du dazu verdammt bist, allein zu bleiben. Aber du bist immer noch auf der Jagd nach der Lebenskraft in dir. Du bist durchaus nicht verloren. Du hast sie heute Vormittag gespürt. Ich glaube, der ganze Morgen hat darin gebadet. Irre ich mich?«
»Ich dachte, du wärst e ine normale Frau«, sagte Hjelm.
»Und normale Frauen, was immer das ist, sind also dein Ding?«
»Jedenfalls keine Frauen, die sich Experten für etwas so Diffuses wie die >Lebenskraft< nennen und die behaupten, die Vitalität eines Mannes an seiner Stimme erkennen zu können. Und definitiv keine Großmeisterinnen, die sexuelle Rituale leiten.«
»Das wollte ich dich tatsächlich selbst entscheiden lassen, Paul Hjelm. Ich wollte dich an einer unserer Zeremonien teilnehmen lassen. Schon heute Abend. Die Einweihung des glücklich wiedergefundenen Skeletts Rigmondos und die Bekehrung eines Mädchens, das auf dem Weg zum Destruktiven ist.«
»Ich verstehe nicht,
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