Dunkelziffer
Minuten vor eins lag sie auf dem Bett und schrieb eifrig in ihr Tagebuch. Sie kann also kaum früher als gegen eins verschwunden sein. Dass niemand sie gesehen hat, als sie durchs Haus ging, dürfte darauf hindeuten, dass man sich draußen auf dem Hof bereits zur Lesestunde versammelte. Wenn sie also von niemandem gesehen wurde, kann das daran liegen, dass sie nicht gesehen werden wollte. Sie wartet, bis die Klassenkameraden das Haus verlassen haben, und benutzt den Küchenausgang. Wir müssen also davon ausgehen, dass sie eher kurz nach eins als vor ein Uhr gegangen ist. Um zehn nach eins begreift man allmählich, dass sie verschwunden ist. Sagen wir also, sie ist um fünf nach eins aus dem Haus. Sagen wir, Marcus versammelt die Leute für die Suchaktion bereits um zwölf, dreizehn Minuten nach eins. Um Viertel nach eins sind sie draußen im Wald. Etwa um zwanzig nach eins finden Jesper und die Jungen das Stück Stoff - mehr als fünf Minuten braucht man doch nicht, um dreihundert Meter in den Wald zu gehen? Tatsächlich liegen nicht mehr als zehn Minuten zwischen dem Zeitpunkt, als Emily in den Wald geht, und dem, als der Suchtrupp loszieht. Wenn wir genau rechnen, ist das sehr schnell, Marcus. Sehr schnell.«
»Merkwürdig schnell?«, fragte Gunnar. »Verdächtig schnell? Wusste Marcus Lindegren von den Pädophilen? Hatte er begriffen, dass jedes Verschwinden Lebensgefahr bedeutete?«
»Oder fürchtete er nur die starke Strömung des Flusses?«, sagte Lena.
Sara fuhr fort: »Auf jeden Fall haben wir damit zwei wichtige Fakten: Erstens: Emily läuft so schnell durch den Wald, dass sie ihre Jacke zerreißt. Also ist sie entweder sehr eifrig, oder sie wird gejagt oder gezogen. Man kann sich vorstellen, dass sie bereits geschnappt worden ist und durch den Wald geschleppt wird. Man kann sich auch vorstellen, dass sie gejagt wird, in Panik rennt.«
»Aber dann hätte sie geschrien«, sagte Lena.
»Ja«, sagte Sara. »Einverstanden. Das Hinausschleichen aus dem Haus deutet darauf hin, dass sie irgendwohin unterwegs ist, und außerdem auch noch schnell, mit so viel Eifer, dass sie nicht auf ihre zerrissene Jacke achtet. Aber dann zweitens: Der Suchtrupp ist so schnell an Ort und Stelle, dass sie immer noch im Wald sein kann, als sie auftauchen. Einen Moment in dem dichten Wald umherzuirren würde schon reichen, um aufgehalten zu werden. Und Emily kann sich da drinnen nicht gut ausgekannt haben.«
»Sie kann zum Fluss gerannt sein und sich hineingestürzt haben«, sagte Gunnar Nyberg. »Es kann ein zielgerichteter Selbstmord gewesen sein.«
»Obwohl es dafür keine Anzeichen gab. Als sie das letzte Mal gesehen wurde, von d er Klassenkameradin Anki Arvids son, lag sie auf ihrem Bett, schrieb Tagebuch und sah >sehr fröhlich< aus.«
»Fröhlich wie nach einem endlich gefassten Entschluss, der nur noch verwirklicht werden muss«, sagte Nyberg mürrisch.
»Stellen wir uns trotzdem vor, dass sie noch im Wald ist«, beharrte Sara Svenhagen. »Klassenkameraden, Lehrer, Eltern laufen umher und rufen. Warum antwortet sie nicht?«
»Das Logische ist natürlich: weil sie schon weg ist«, sagte Lena Lindberg. »In dem Punkt bin ich einer Meinung mit Gunnar.«
»Auf dem Weg nach Norden also? Auf direktem Weg in den Fluss? Die Selbstmordtheorie wird immer überzeugender?«
Gunnar und Lena sahen sich an. »Na ja«, sagten sie im Duett.
»Was passiert also?«, bohrte Sara weiter. »Wir müssen zurück in dieses Zimmer. Sollen wir annehmen, dass sie sich hinausschleicht? Die Lehrerin, Astrid, glaubt, ein Gewalttäter habe sich ins Haus geschlichen, >ins Innere des Herzens<, und sie mitgeschleppt. Das erscheint doch eher unwahrscheinlich. Und wenn sie von einem Vergewaltiger im Zimmer überrascht und gejagt worden wäre, hätte sie auf dem ganzen Weg durch das Haus geschrien. Aber sie schreit nicht. Sie begibt sich in den Wald. Und sie bleibt so fest an einem Wacholderstrauch hängen, dass ihre Jacke zerreißt. Warum? Da ist großes Tempo im Spiel, große Kraft. Wenn sie in Panik wegrennt, warum schreit sie dann nicht? Eher muss man glauben, dass sie durch den Wald geschleppt wird, vielleicht mit einem Knebel im Mund oder einer starken Männerhand, die ihr den Mund zuhält. Sie wird doch wohl entführt? Obwohl - im Wald. Was macht sie da? Warum geht sie dorthin? Warum sieht niemand sie hingehen?«
»Zurück zu dem Zimmer«, sagte Gunnar Nyberg. »Sie nimmt das Tagebuch mit. Warum nimmt sie das Tagebuch mit, wenn sie zur
Weitere Kostenlose Bücher