Dunkelziffer
Lesestunde will? Es ist ein intimes Buch, den Zeugen zufolge mit einem Schloss versehen, das nimmt man nicht mit zu gemeinsamen Zusammenkünften. Wenn sie es ist, die das Tagebuch mitnimmt - andernfalls müssten wir mit einem Eindringling rechnen, was wohl niemand glaubt -, dann hat sie nicht vor, zur Lesestunde zu gehen. Sie hat etwas Wichtigeres vor. Wie zum Beispiel, mit dem Tagebuch in den Wald zu gehen.«
»Und das Handy«, sagte Sara. »Haben wir über das Handy nicht mehr Informationen? Warum kann uns der Anbieter nicht einfach eine Gesprächsliste geben?«
»Sehr problematisch«, sagte Lena und blätterte wieder in den Papieren. »Es ist ein neuer Anbieter, es hat mit Prepaid-Karte und Geheimnummer zu tun. Sie verbraucht nur das Guthaben, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Sie versuchen, eine Gesprächsliste zusammenzustellen, aber es ist offenbar nicht sicher, ob es gelingt. Nicht ohne SIM-Karte.«
»Jeder technische Fortschritt scheint einen entsprechenden Rückschlag zu beinhalten«, sagte Gunnar. »Jedenfalls nimmt sie das Wichtigste, was sie hat, an sich und geht in den Wald. Warum? Warum nicht das Offenkundige denken? Wahrscheinlich hat sie einen Jungen getroffen. Einen siebzehnjährigen Motocrossfahrer aus dem Dorf mit unwiderstehlichem Oberlippenflaum. Sie läuft fröhlich durch den Wald, um, sagen wir, zum Fußballplatz zu gelangen. Sie pfeift darauf, dass sie sich die Jacke zerreißt. Sie bebt vor Vorfreude. Sie hat sich entschlossen, dass dies der Tag ist, an dem sie ihre Unschuld verlieren wird. Er ist da und trifft sich mit ihr und fährt mit ihr auf seinem heißen Ofen bis nach Näsäker, und genau jetzt umarmen sie sich in seinem Jungenzimmer, es ist eine lange orgiastische Nacht, die sie in bittersüßer Erinnerung behalten wird bis ins Altersheim. Das Handy schaltet sie natürlich ab, um nicht gestört zu werden.«
»Liest sie ihm aus dem Tagebuch vor?«, fragte Lena.
»Hm«, sagte Gunnar nachdenklich. »Ja. Bevor sie gegangen ist, hat sie ein Liebesgedicht für ihn geschrieben. Deshalb sah sie so fröhlich aus. Das Gedicht will sie ihm vorlesen.«
»Wann haben sie sich getroffen? Ich meine, zum ersten Mal?«
»Emily ist ein bisschen einzelgängerisch«, fuhr Gunnar Nyberg atemlos fort, »sie unternimmt gern einsame Spaziergänge. Nicht im Wald, das ist gefährlich und verboten, aber an der Landstraße. Wandert nachdenklich neben dem Straßengraben. Eines Abends hält ein Motorradfahrer neben ihr und sagt: >Hej!< in dröhnendem Angermanländisch. Sie sieht den Oberlippenflaum, und ihr Herz ist rettungslos verloren.«
»Könnte stimmen«, sagte Lena Lindberg und zuckte fragend die Schultern in Richtung Sara Svenhagen, deren skeptische Miene nicht zu übersehen war.
»Von ein Uhr mittags bis ein Uhr nachts?«, sagte Sara und sah auf die Uhr. »Zwölf Stunden ohne einen Pieps? Mitten in der Nacht, ohne sich zu melden?«
»Jenseits von Zeit und Raum«, sagte Gunnar träumerisch. »Der Junge ist siebzehn und unermüdlich. Er führt sie auf Höhen, von denen sie nichts geahnt hat. Die Außenwelt hat aufgehört zu existieren.«
»Und das Altersheim, ja, ja«, sagte Sara schroff. »Nein, hier geht es um ein Verbrechen, das spüre ich. Aber ich weiß nicht, wie das Verbrechen aussieht.«
»Denke nach, statt zu spüren«, sagte Gunnar barsch.
»Aber spürt ihr das nicht auch?«
»Die Ahnung dunkler Schatten im Gebüsch?«
»Hör schon auf«, sagte Sara.
»Jetzt bin ich inspiriert, ihr Musen«, fuhr Gunnar Nyberg fort und richtete seinen mächtigen Körper auf. »Bedient euch hemmungslos meines Bardenkörpers, und ihr werdet ihn dazu bringen, die reinste Wahrheit zu singen.«
»Ach nein«, sagte Sara mitleidig und warf einen Blick auf Lena, die tatsächlich für einen Moment so aussah, als wollte sie ihn beim Wort nehmen.
Dann richtete Lena sich auf und sagte: »Gehen wir lieber die Zeugenaussagen durch?«
Nyberg begann gedemütigt in dem Papierstapel zu blättern.
Lindberg und Sara taten das Gleiche. Schließlich hatte jeder seinen Stapel.
Sara sagte: »Ich bin nicht sicher, ob wir der ersten Zeugenaussage viel mehr als einen Haufen Vorurteile entnehmen können. Lisa Lunden machte keinen sympathischen Eindruck - sie scheint mit nichts im Universum einverstanden zu sein.«
»Außer vielleicht mit Ralph Lauren«, sagte Lena. »Der Wald ist verdammt dicht und zerreißt ihr die Jacke, und überall sind Insekten, Mücken, Schnaken, sogar Krähen. Und Banjospieler mit sechs
Weitere Kostenlose Bücher