Dunkelziffer
seinen umfassenden Erfahrungen, oder beruht die Äußerung auf faktischer Kenntniss von Emilys Gemütszustand?«
»Mit wem sonst müssen wir noch genauer sprechen?«, sagte Lena. »Jedenfalls mit den früheren Freundinnen Felicia und Julia. Julia hat nicht viel Brauchbares gesagt, und Felicias Aussage ist nur eine blasse Kopie der Darstellung Vanjas. Mit Vanja Persson müssen wir noch ausführlicher reden, denn sie ist von allen die Intelligenteste. Felicia, Vanja und Emily wohnten ja außerdem auf einem Zimmer. Warum, wenn Felicia und Emily sich zerstritten hatten?«
»Nils«, unterbrach Gunnar energisch. »Nils Anderberg, der sich äußerst widerwillig zu den >Dorforiginalen< schicken lässt. Deren Gespräch deutet darauf hin, dass sie sich der Anwesenheit von Pädophilen in der Gegend bewusst sind. Mit dem Schlimmsten, Calle, dem Knabenmörder von Vasastan, angeln sie zusammen. Und einer fragt: >Mädchen oder Junge ?< Das ist bei aller Unwissenheit eine gute Zeugenaussage, sie liefert ein Bild vom Dorf, finde ich.«
»Vermutlich ein Bild mit vielen Vorurteilen«, sagte Sara Svenhagen.
»Und dann haben wir Vanja«, sagte Lena Lindberg. »Die arme Vanja, klug und Unterklasse und >deformiert<. Ich habe keine Deformation bemerkt.«
»Wieder diese Lisa Lunden« , seufzte Sara. »Deren Tochter Felicia sich mit einem sogenannten hässlichen Mädchen abgibt. Deformiert. Das muss natürlich unter ihrer Würde sein.«
»Vanja Perssons Reflexionen über Emily Flodberg sind ernst zu nehmen«, sagte Lena. »Was sie über die Parallelen zwischen Felicia und Emily sagt, halte ich für wichtig. Sie versorgt Felicia mit Liebe. >Aber ist das Freundschaft ?< Es ist wohl so, dass weder Felicia noch Emily sich mit Freundschaft und Liebe besonders gut auskennen. Jedenfalls wandern Felicia und Vanja nach Nordosten, berühren die Landstraße und erreichen den Fußballplatz. Sie sehen gar nichts. Und dann der Schluss: >Aber wenn Sie mich fragen, dann sage ich, Emily ist abgehauen. Durchgebrannt. Felicia und sie sind Zwillingsseelen irgendwie. Deshalb ertragen sie sich nicht. Sie haben da einen Hohlraum, wo das Herz sitzen sollte, aber es ist einer, der wehtut. Jetzt vielleicht nicht mehr.<«
»Aber all das widerspricht nicht der Theorie, dass sie einfach nur einen Jungen auf einem Motorrad getroffen hat«, sagte Gunnar Nyberg, beugte sich vor und drehte den großen Kopf langsam in alle Richtungen. Es knackte laut. Wie der Schlusspunkt nach einem langen Tag.
Sara, Lena und Gunnar sahen sich an. Sie fühlten sich, als wäre die Luft knapp geworden. Ein schwaches Licht breitete sich in dem alten Speisesaal aus. Winkel, die eben noch im Dunkeln gelegen hatten, bekamen Konturen. Die kurze Nacht - die für Emily sicher sehr lang gewesen war - näherte sich ihrem Ende.
»Nein«, sagte Lena Lindberg. »Jetzt geht bei mir gar nichts mehr. Ich muss schlafen. Morgen um acht?«
»Acht Uhr ist gut«, sagte Sara Svenhagen und sah, wie sich ihre Kollegin aus dem Raum schleppte. Dann wandte sie sich an Gunnar Nyberg, der müde blinzelte, und sagte: »Ich weiß, dass du das willst. Ich will es auch.«
»Was?«, sagte er schleppend.
»Dass sie einen Oberlippenflaum getroffen hat.«
»Ja«, sagte er. »Das will ich.«
»Aber du weißt, dass es nicht so ist, oder?«
Gunnar Nyberg erhob sich, stand eine Weile da, den müden Blick in ihren gesenkt, und sagte: »Gute Nacht, Sara.«
Dann verschwand er.
Sara stand auf und fuhr sich mit der Hand durch das kurze blonde Haar. Sie beugte sich vor, die Fingerknöchel auf dem Tisch, reckte sich und gähnte. Dann ließ sie sich von dem kühlen, mit Mücken verseuchten Luftstrom zum Balkon führen.
Im Dämmerlicht wirkte der Wald lebendig. Der alte Hof schien vom Wald vollständig umschlossen zu sein, schwerem Nadelwald, der sich näher und näher herandrängte. Selten war ihr die Natur in ihrer Gleichgültigkeit so aggressiv erschienen. In den Fichten- und Kiefernwipfeln funkelten die Strahlen der neu erwachten Sonne. Ein betäubender Duft schlug Sara entgegen, und ihr Blick bohrte sich tief in den Wald.
Sie dachte an Emily Flodberg.
8
Steffe dachte an Marja. Er sa ß in einer Konditorei auf Öster malm, drehte sein Handy und dachte an Marja. Ihr schönes Gesicht, den Duft ihrer Haut, die wunderbare Rundung der Brüste, ihre dunkle belegte Stimme, die sein Gesicht sirenengleich hinabsang zu dem gepflegten kleinen Haarbüschel, das das Füllhorn ihres Geschlechts krönte.
Herrgott, wie er sie
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