Dunkle Beruehrung
daran. Jessa hatte diese irrige Vorstellung sehr sorgfältig kultiviert.
Ihre Fähigkeit, genau das herauszufinden, was die Leute vor ihren Arbeitgebern verbergen wollten, hatte Phoenix zu einer der besten Personalagenturen im Süden der USA gemacht, doch niemand durfte erfahren, wie Jessa tatsächlich vorging.
Angela Witt, für alles Organisatorische zuständig, passte Jessa vor deren Büro ab. Angela war groß, knochig, ein wenig unbeholfen und gerade zwanzig und war zunächst als Aushilfe in die Agentur gekommen. Jessa hatte rasch bemerkt, dass die blutjunge Sekretärin ein Naturtalent war, was PC s, das gleichzeitige Erledigen mehrerer Aufgaben und den optimalen Einsatz der verfügbaren Mittel anging. Zudem war sie zielstrebig und suchte dringend eine Festanstellung.
»Ms Bellamy, Caleb sagte, Sie wollen sich Ms Farley noch mal vornehmen.« Angela klang so steif, wie sie aussah. »Ich habe alle Referenzen geprüft, und sie stimmen hundertprozentig. Was habe ich übersehen?«
»Nichts«, erwiderte Jessa. »Sie trägt die falschen Schuhe.«
»Ein Modefehler? Ach, gut.« Ihre Schultern entspannten sich, und sie hob das Kinn. »Ich meine, das ist natürlich nicht gut, gar nicht, aber wenigstens habe nicht ich …« Sie unterbrach sich und seufzte. »Verzeihung.«
»Schon in Ordnung, Angela.« Jessa war die leichte, aber ständige Paranoia ihrer Büroleiterin gewohnt und verkniff sich ein Lächeln. »Vielleicht irre ich mich ja diesmal.«
»Unmöglich, Ms B.« Angela schüttelte so energisch den Kopf, dass der Bleistiftstummel, der ihren Haarknoten an Ort und Stelle hielt, fast aus dem Schopf gerutscht wäre. »Sie irren sich nie. Als hätten Sie eine Art Lügner-Radar. Ich sehe noch mal, was sich über sie finden lässt.« Sie drehte sich um und eilte den Flur hinunter zum Datenzentrum.
Jessa betrat ihr Büro und schloss die Tür. Sie hatte ihr Zimmer so eingerichtet, dass es ruhig und ordentlich war. Zwei Säulen aus durchsichtigem Kunstharz trugen die wuchtige schwarze Platte aus poliertem Granit, an der sie arbeitete. An einer weißen Wand standen schwarz lackierte Schränke aus Fernost mit Perlmuttintarsien in Form von Lotosblüten und enthielten ihre Büroausrüstung. An der Wand gegenüber hing ein großformatiger Druck des Schwarz-Weiß-Fotos »Vögel am Strand« von Ansel Adams über einer Sitzlandschaft aus schwarzem Leder, die um einen Couchtisch – praktisch eine kleinere Version ihres Arbeitsplatzes – angeordnet war. Auf dem Tisch stand eine Kristallvase mit frischen Blumen. Statt der Rückwand hatte sie ein Panoramafenster einbauen lassen, das einen prächtigen Blick auf die Peachtree Street und das Armstrong-Gebäude bot.
Für den Boden hatte sie in Schweden Steinplatten aus Labradorit in Auftrag gegeben, die in einem sich andauernd behutsam wandelnden Farbenspiel blau, grün und bernsteingelb schimmerten. An den Ecken der Platten befanden sich kleine, scheinbar rein dekorative Silberscheiben, deren jede aber – kaum drückte man die Fernbedienung – dreierlei vermochte: den Raum verriegeln, Alarm auslösen und dem, der auf ihr stand, mit einem Stromschlag das Bewusstsein rauben.
Ihr Zimmer ließ eher an den Ausstellungsraum einer Galerie für minimalistische Kunst denken als an ein Büro, doch es entsprach ihrem Geschmack und sorgte dafür, dass sich kein Besucher allzu wohlfühlte.
Jessa öffnete den Schrank, der ihrem Schreibtisch am nächsten stand, und überprüfte ihre Observationsgeräte. Sechs Monitore zeigten ihr Büro aus sechs Blickwinkeln, aufgenommen von im ganzen Raum versteckten Minikameras. Sie nahm einen kleinen Sender-Empfänger, schaltete ihn ein und setzte ihn aufs Ohr. Dann nahm sie eine flache Fernbedienung aus dem Schrank und steckte sie in die Jackentasche.
Als es klopfte, trat Jessa hinter ihren Schreibtisch und rief: »Herein.«
Es war Caleb mit der unfroh wirkenden Ellen Farley im Schlepp. Kaum hatte er die Frauen einander vorgestellt und Jessa eine Akte gegeben, entschuldigte er sich und ging.
»Bitte setzen Sie sich, Ms Farley.« Jessa wartete, bis ihre Besucherin Platz genommen hatte, ließ sich ebenfalls nieder und öffnete die Akte. »Ich habe noch ein paar Fragen an Sie.«
»Noch mehr?« Ellen verschränkte die Arme. »Ich habe all Ihre Formulare ausgefüllt. Was wollen Sie denn noch wissen?«
Unfroh und abwehrend
, dachte Jessa.
»Sie wurden 1974 geboren und sind Einzelkind, ja?« Sie blickte auf, registrierte Ellens angespanntes Nicken und sah
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