Dunkle Beruehrung
begangen hast.« Min drückte die Vase mit einer Hand an sich und umschlang ihren Freund mit dem anderen Arm. »Was machst du hier?«
»Ich bin hungrig, ich bin arm, und ich esse sehr ungern allein.« Er küsste sie auf die Nasenspitze. »Spendier mir bitte ein Mittagessen.«
Tag war eine ihrer stärksten Ahnungen gewesen. Sie hatte gewusst, dass er in der Bull Street um die Straßenecke biegen würde, und tatsächlich war er Sekunden später direkt in sie hineingelaufen, doch etwas hatte ihr befohlen, nicht auszuweichen. Als er sie mit seinen tintenfleckigen Händen auffing, war ihr sofort klar, dass sie die Frau seines Lebens war, die Einzige, die er je lieben würde. Und das hatte sie genauso bezaubert wie sein strahlendes Lächeln.
»Ziemlich hübsches Bestechungsgeschenk.« Min hob die Vase, um die Blumen näher anzuschauen, deren schneeweiße Blütenblätter an den Rändern zart ins Rosafarbene spielten. Solche Rosen hatte sie bisher nur an einem Ort gesehen. »Tag! Bitte sag mir, dass du die nicht aus Mrs Pardalias Garten gestohlen hast.«
»Ich habe geschworen, dich nie zu belügen, Minnie.« Er blendete sie mit seinem Lächeln und zeigte keinerlei Reue. »Ihr wird niemals auffallen, dass welche fehlen.«
»Du kennst sie nicht. Wahrscheinlich zählt sie jeden Nachmittag beim Unkrautjäten die Knospen ab.« Eine Abfolge seltsamer, ferner Knallgeräusche irritierte sie kurz. »Ich sollte wirklich nicht zum Mittagessen gehen, nicht an meinem ersten Tag hier. Ich habe eine Unmenge aufzuarbeiten.«
»Dann also nur eine halbe Stunde.« Er schlang ihr den Arm um die Taille. »Keine Sorge – die Arbeit ist noch da, wenn du zurückkommst.«
»Also gut. Ich gebe nur Mr Whitemarsh Bescheid, dann können wir –« Wieder unterbrach sie eine Serie abgehackter Geräusche, nun aber aus größerer Nähe. »Was ist das?«
»Hört sich an wie platzendes Popcorn …« Als die Tür hinter Tag krachend aufflog, drehte er sich stirnrunzelnd um.
Ein junger Mann mit kreidebleichem Gesicht stützte sich gegen den Türstock, die Hand auf einem roten Fleck, der auf der hellblauen Hemdbrust rasch größer und größer wurde.
»Versteckt euch«, konnte er noch hervorbringen, ehe er vornübersank.
Popcorn?
, dachte Min und ließ die Glasvase fallen.
Schüsse!
Scherben klirrten. Tag packte den jungen Mann, damit er nicht hinstürzte, senkte ihn vorsichtig zu Boden, rollte ihn auf den Rücken und zog die erschlaffte Hand von dem gewaltigen Blutfleck. Schwarze Pulverspuren umgaben ein großes, dunkles Loch.
Min kniete sich neben die beiden, doch heiße Tränen traten in ihre Augen und ließen alles verschwimmen. »Tag?«
»Er wurde angeschossen.« Ihr Freund legte dem Mann zitternd die Rechte auf die Brust und drückte ein wenig. Sofort stieg ihm Blut zwischen den Fingern auf und lief über seinen Handrücken. »Schatz, wähl den Notruf. Schnell.«
Während Min sich aufrappelte und blind nach dem Telefon tastete, knallte es wieder rasch hintereinander im Flur, diesmal viel lauter. Sie zuckte zusammen, als Männer schrien und Frauen kreischten. In diesem Augenblick kam Whitemarsh aus seinem Büro.
»Ist was kaputt gegangen?« Seine Miene erstarrte zu einer Maske des Grauens, als er den schwer verwundeten Mann erblickte. »Um Gottes willen! Was ist los?«
»Jemand hat auf ihn geschossen«, erwiderte Tag. »Jemand hier im Haus.«
Pommesgestank und Körpergeruch kamen ins Zimmer geweht.
Jennifer
, dachte Min und starrte die Frau im lila Blazer an, die nun ins Büro trat. Min sah sie eine große Pistole halten, konnte sich aber nicht regen oder auch nur bedenken, was das hieß.
Jennifer Sowieso
.
»Jennifer.« Totenbleich stolperte Whitemarsh rückwärts, stieß gegen die Hängeregistratur und riss die Arme hoch. »Nicht. Bitte. Warte.«
»Ich habe gewartet«, erwiderte die Frau mit ihrer schrillen Kleinmädchenstimme. »Sechs Wochen lang. Du hast mich nicht geholt. Dabei hattest du gesagt, du würdest es tun.« Sie zeigte mit der Pistole auf ihn wie mit einem Finger und stieß damit in seine Richtung, um jedes einzelne Wort zu unterstreichen. »Du hast es versprochen.«
Whitemarshs schöne Hände bewegten sich, als dirigierte er eine Sinfonie. »Bitte, Jenny, beruhige dich. Du weißt nicht, was du sagst. Du bist krank. Du brauchst Hilfe.«
»Ich brauche
Hilfe?
« Ihr Auflachen glich einem Schrei. »Ich liebe dich. Du liebst mich. Dennoch hast du zugelassen, dass sie mich dorthin gebracht haben. In diese
Anstalt
. Da ging
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