Dunkle Beruehrung
werden Ihnen sicher alle grausigen Einzelheiten erzählen, Minerva. Ich bitte Sie nur darum, sie dazu nicht noch zu ermuntern; ich denke, Boyd Whitemarsh hat genug durchgemacht.«
Als ihr neuer Chef ins Büro kam, hatte Min die meisten Papiere bereits durchgesehen und erste Anrufer abgewimmelt. Boyd Whitemarsh war groß, schlank und angenehm freundlich, hatte silbergraues Haar und besaß das jungenhafte Lächeln und das ungezwungene Auftreten eines viel jüngeren Mannes.
»Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas brauchen«, sagte er nach der Begrüßung. »Am Anfang ist es sicher verwirrend, aber bis Ende der Woche haben Sie sich bestimmt eingearbeitet.«
»Danke, Mr Whitemarsh.« Min wandte sich ihrem PC zu und rief den Kalender auf. »Ich habe mit der Rezeptionistin gesprochen, die hier in den letzten Tagen vertretungsweise beschäftigt war. Um zehn haben Sie eine Besprechung mit dem Abteilungsleiter für New York, um zwölf essen Sie mit Mr Kijorski im
Black Oak
, und für zwei Uhr ist ein Gespräch mit der Legacy Group in Konferenzraum vier angesetzt.« Sie gab ihm einen Stapel Umschläge. »Das sind alle Briefe der letzten Woche, die beantwortet werden müssen. Ich stehe gern zum Diktat zur Verfügung.«
Whitemarsh schmunzelte anerkennend. »Vielleicht war ich etwas voreilig.«
Kaum war ihr Chef in seinem Büro verschwunden, ging Min daran, die vielen liegen gebliebenen Papiere abzuheften, und machte sich so mit der Ablage vertraut, deren Systematik ihre Vorgängerin angesichts der vielen falsch abgelegten Unterlagen entweder nicht beachtet oder sich gar nicht erst angeeignet hatte. Whitemarshs erste Besprechung war bereits beendet, doch Min arbeitete zügig weiter. Die Karteireiter gingen aus, doch eine gründliche Durchsicht der Schubladen ihres Schreibtischs brachte nur Massen zusammengeknüllter Chips- und Schokoriegelverpackungen zum Vorschein, die Min mit spitzen Fingern zum kleinen Abfalleimer beim Kopierer brachte.
Igitt
. Hinten in der Schublade einer Hängeregistratur stieß Min auf einen halb gegessenen, stark verschimmelten Muffin, bei dessen Anblick sich ihr fast der Magen umdrehte.
Warum hat sie bloß das ganze Zeug gegessen?
Als sie das widerliche Überbleibsel in den Mülleimer warf, fiel ihr wieder ein, dass eine Mitstudentin nach dem gleichen Kram süchtig gewesen und im Wohnheim oft von Zimmer zu Zimmer gegangen war und gefragt hatte, ob jemand etwas Süßes oder Salziges für sie habe. Dieses Mädchen hatte kurz vor der Zwischenprüfung einen so schlimmen Zusammenbruch gehabt, dass ihren Eltern nichts anderes übrig geblieben war, als sie von der Hochschule zu nehmen.
Nach Beseitigung der letzten Junkfood-Reste meldete Min sich über die Gegensprechanlage bei ihrem Chef: »Mr Whitemarsh, ich gehe kurz vom Schreibtisch weg. Sollen die Anrufe währenddessen unten am Empfang landen?«
»Aber nein«, sagte er. »Ich gehe so lange ans Telefon.«
Min brachte den Müll in den Container hinterm Haus und kehrte zum Hintereingang zurück. Dort stand eine junge Frau und kramte in einer Einkaufstasche aus Bast herum. Ein lilafarbener Blazer umschlotterte ihre magere Gestalt, ihr Rock war zerknittert, und die braunen, zu langen Stirnfransen, die ihr bis in die Augen hingen, sahen fettig aus. Beim Näherkommen stachen Min Pommesgestank und Körpergeruch in die Nase.
»Ich muss sie in meinem Schreibtisch vergessen haben«, murmelte die Frau, und ihre Stimme klang unerwartet hell und kindlich. Mit unbestimmtem Blick trat sie beiseite. »’Tschuldigung.«
Die Frau trug ein OCI -Ansteckschildchen am Revers: Jennifer Sowieso. Min kannte sie nicht, aber es war ihr erster Arbeitstag – sie kannte noch kaum jemanden.
»Ich hab meine dabei«, sagte sie und öffnete mit ihrem neuen Schlüssel.
Ohne ein weiteres Wort griff die Frau nach dem Türknauf und schlüpfte an ihr vorbei.
»He!« Fast wäre die Tür vor Min ins Schloss gekracht. »Gern geschehen«, rief sie der anderen nach.
Das Mädchen drehte sich nicht einmal zu ihr um.
Als Min ins Büro zurückkam, sah sie als Erstes die Vase mit zarten weißen Rosen auf ihrem Tisch. Sie stellte den Mülleimer ab und hob sie hoch. »Wie schön.«
»Und günstig.« Lächelnde dunkle Augen strahlten unter einem strubbeligen Braunschopf auf sie herab, als ein großer, schlaksiger Mann hinter der Tür hervortrat und sie schloss. »Darf ich dir den Strauß als Bestechungsgeschenk verehren, meine Göttin?«
»Das kommt ganz darauf an, welche Verbrechen du
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