Dunkle Halunken: Roman (German Edition)
aber mein Mann und ich fühlen uns in loco parentis der jungen Dame gegenüber, die offenbar sonst niemanden hat, der sich um sie kümmert, und deshalb müssen die gesellschaftlichen Gepflogenheiten beachtet werden.«
Dodger, der nicht wusste, was ein loco parentis war, hob die Schultern und sagte: »Völlig klar, Missus, aber ich komme morgen trotzdem hierher, am Nachmittag, für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen.«
Mister Mayhew schloss zu ihm auf, als er die Küche erreichte. »Meine Frau ist ein bisschen überempfindlich, wenn du verstehst, was ich meine.«
Dodger konnte nur »Nein, ich verstehe nicht« antworten, und wie zwei Gentlemen beließen sie es dabei. Er schüttelte Mister Mayhew die Hand, eilte durch die Küchentür und staunte noch immer darüber, dass die Mayhews so kühne Worte aus seinem Mund zugelassen hatten. Er brannte darauf, Sol davon zu erzählen.
Die Köchin wirkte nicht überrascht, als er in der Küche erschien. »Oh, mein Junge«, sagte sie, »bist ein aufgehender Stern, wie? Verkehrst mit besseren Leuten! Gut für dich! Der Bursche, den ich hier vor mir sehe, ist offenbar nicht irgendein Tosher, sondern ein kluger junger Mann, für den die Welt günstige Gelegenheiten bietet.« Sie reichte ihm ein schmieriges Bündel und sagte: »Zur Zeit ist hier das Geld knapp. Die Dinge ringsum sind ein wenig besorgniserregend geworden, du weißt es natürlich nicht, aber das zweite Dienstmädchen musste uns verlassen. Ich nehme an, Missus Sharples ist die Nächste, wenn es schlimmer wird, kein großer Verlust, und anschließend bin ich an der Reihe, obwohl ich mir die Hausherrin kaum am Herd vorstellen kann. Aber ich habe dir einige Reste eingepackt, ein paar kalte Kartoffeln und Möhren, außerdem ein ordentliches Stück Schweinefleisch.«
Dodger nahm das Bündel. »Vielen Dank. Da ist sehr nett von Ihnen.«
Das veranlasste Missus Quickly, die Arme um ihn zu schlingen und mit ihm schmusen zu wollen. »Wie ein wahrer Herr gesprochen. Vielleicht könntest du deine Dankbarkeit mit einem kleinen Kuss unterstreichen …«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu.
Und so küsste Dodger die Köchin, eine recht vollbusige Dame, die ziemlich lange küsste, und als er sich von ihr lösen durfte, sagte sie: »Wenn du hoch aufsteigst … Vergiss nicht diejenigen, die tief unten leben.«
[3] Etwa zur Zeit von Dodger gingen die meistenAbwässer von London in Faulbehälter oder Senkgruben, die regelmäßig geleert wurden. Düngewagen brachten ihren Inhalt fort.
6
Hier kauft ein Sixpence viel Suppe, und das Gold eines Fremden kauft einen Spion …
Der Kuss der Köchin bescherte Dodger eine Verlegenheit, die ihm bis nach Hause folgte, ebenso wie ein bisschen Gekröse. Irgendwie war er nicht mehr ganz sicher, wer er eigentlich war: ein Junge aus der Kanalisation oder einer, der mit feinen Leuten verkehrte – obgleich er genug wusste und begriff, dass Mister und Missus Mayhew nicht unbedingt zu den feinen Herrschaften zählten, trotz des großen Hauses und der Bediensteten. Das Haus war zweifellos besser als alle Unterkünfte, in denen Dodger jemals gewohnt hatte, aber hier und dort neigte es ein wenig zum Schäbigen. Von Schmutz im eigentlichen Sinn konnte keine Rede sein, doch an einigen Stellen gab es Anzeichen von Vernachlässigung, die darauf hindeuteten, dass das Geld tatsächlich knapp war, wie Missus Quickly gesagt hatte. Selbst Leute wie die Mayhews mussten auf den Penny achten.
Missus Mayhew war ebenfalls besorgt gewesen, und Dodger hatte den Eindruck gewonnen, dass die Sorge bei ihr gewissermaßen eingebaut war und nicht nur Simplicity galt. Er tat es mit einem Schulterzucken ab. Vielleicht ist das der Lauf der Welt, dachte er. Je mehr man hat, desto größer die Sorge, es zu verlieren. Wenn das Geld ein bisschen knapp wird, fürchtet man, das hübsche Haus mit all den hübschen Dingen darin aufgeben zu müssen.
Dodger hatte sich Zeit seines Lebens keine großen Sorgen gemacht, es sei denn um elementare Bedürfnisse wie eine anständige Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen. Man brauchte kein Haus mit vielen hübschen Dingen (und Dodger war darauf spezialisiert, hübsche Dinge zu bemerken, insbesondere jene, die einen gewissen Wert hatten und schnell in die Tasche gesteckt werden konnten, um sich anschließend in Geld zu verwandeln). Welchen Sinn hatten sie? Sollten sie darauf hinweisen, dass man sich solchen Überfluss leisten konnte? Fühlte man sich dadurch besser? Wurde man
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