Dunkle Halunken: Roman (German Edition)
glücklicher?
Die Mayhews lebten auf eine steife Art und Weise, und besonders glücklich erschienen sie Dodger nicht. Er hatte eine sonderbare Anspannung gespürt, die er nicht genau benennen konnte, eine irgendwie in der Luft liegende Traurigkeit, und seltsamerweise wurde auch Dodger ein wenig traurig, was ihn erstaunte. Gewöhnlich neigte er nicht dazu, traurig zu sein. Wer hatte schon Zeit für so etwas? Er hatte oft den Hals voll, ärgerte sich und wurde sogar zornig, aber das waren nur Wolken am Himmel; früher oder später zogen sie weiter. Die Schatten ruhten nie lange auf ihm. Doch als er das Haus der Mayhews hinter sich ließ, schien er die Sorgen anderer Leute mitzunehmen.
Dagegen schien es für ihn nur ein einziges Heilmittel zu geben – in die Kanalisation hinunterzusteigen. Denn wenn er schon down war, konnte er auch die Gelegenheit nutzen, ein bisschen herumzusuchen und vielleicht einen Sixpence zu finden. Doch erst musste er zur Mansarde zurück und sich umziehen – der gebrauchte Anzug war die beste und schickste Kleidung, die er je besessen hatte, und es gehörte sich nicht, darin zu arbeiten, oder?
Aber … Simplicity. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu ihr zurück. Er fragte sich, wer sie war, wer vielleicht wusste, was ihr widerfahren war und aus welchem Grund. Und natürlich, wer sie zusammengeschlagen hatte. Das musste er unbedingt herausfinden. Und in dieser überfüllten Stadt gab es immer jemanden, der alles hörte, was andere sagten.
Die Polizei wusste natürlich nichts, denn niemand, der noch alle Sinne beisammen hatte, sprach mit den Peelern. Einer oder zwei von ihnen waren ganz in Ordnung, aber es brachte nichts, ihnen zu vertrauen. Doch mit Dodger sprachen die Leute, dem guten alten Dodger, insbesondere wenn er ihnen einen Sixpence lieh, zurückzuzahlen am Sankt Nimmerleinstag.
Und so war seine Rückkehr zur Mansarde, wo er sich umziehen wollte, keine gerade Strecke, sondern ein Weg voller Windungen und Drehungen, denn er machte hier und dort halt, um mit Leuten zu reden, die manche für Abschaum hielten, zum Beispiel mit den Cockneys, die Äpfel verkauften und nichts lieber taten, als sich gegen die Peeler zusammenzurotten und einen regelrechten Krieg zu führen, wobei jede Waffe recht war. Er sprach mit den Straßenhändlern, die von hauchdünnen Gewinnmargen lebten. Und er plauderte mit den Damen, die herumhingen, ohne viel zu tun, sich aber immer freuten, wenn sie einem Herrn mit Geld begegneten, der nett und großzügig war, erst recht wenn sie ihm etwas ins Glas getan hatten. Anschließend konnte sich der Betreffende vielleicht über eine lange Reise die Themse hinunter freuen, zu fernen, fernen Orten, wo er Gelegenheit bekam, ganz besondere Menschen kennenzulernen, von denen ihn einige sogar fressen wollten, wie man hörte. Wenn einer der Herren echt Pech hatte – oder wenn er eine Person wie Missus Holland in Bankside verärgert hatte –, so machte er die Reise die Themse hinunter ohne Boot oder Schiff …
Dann gab es da die Männer beim Würfelspiel, bei dem man immerhin gewinnen konnte, wenn man nüchtern genug war und die Würfel richtig fielen. Anders sah es bei dem Spiel aus, das einem von einem fröhlichen Burschen mit einem Brett, drei Fingerhüten und einer Erbse angeboten wurde. Auf diesem kleinen Schlachtfeld setzte man Geld auf den Verbleib besagter Erbse, wobei man sich auf seine scharfen Augen verließ, während der gut gelaunt schwatzende Mann die Fingerhüte bewegte. Nie, nie erriet man den richtigen Fingerhut, denn wo sich die Erbse wirklich befand, wussten nur der fröhliche Mann und Gott, und vermutlich war nicht einmal Gott sicher. Wenn man genug getrunken hatte, versuchte man es stets von Neuem, wobei man immer mehr Geld wettete, denn selbst wenn man einfach nur riet, früher oder später musste man auf den richtigen Fingerhut deuten. Aber leider, leider kam es nie dazu.
Schließlich gab es da noch das Kasperletheater, das sich in letzter Zeit besonders großer Beliebtheit erfreute, weil es dabei einen Polizisten gab, den der Kasper mit seinem Stock verhauen konnte. Die Kinder lachten, und die Erwachsenen lachten ebenfalls, alle lachten, wenn der Kasper mit seiner quiekenden Stimme, die nach einem schrecklichen Raubvogel oder dem quietschenden Rad einer Kutsche klang, »So wird das gemacht!« rief.
Wenn man älter wurde, verstand man: Kasper war der Mann, der den Säugling aus dem Fenster warf und seine Frau schlug. So etwas passierte
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