Dunkle Seelen
aber du führst ihn doch nicht an der Nase rum und lässt ihn glauben, dass du immer noch Interesse an ihm hättest, oder?«
Cassie blinzelte irritiert. Schockiert und wütend holte sie tief Luft. »Was?«
»Na ja, seit ihr euch getrennt habt, ist er nicht mehr derselbe. Er ist noch ernster als früher.« Er verdrehte die Augen und fügte hinzu: »Falls das überhaupt möglich ist...«
»Er wollte sich mit mir treffen«, fuhr sie ihn empört an.
»Ach ja? Nun, er ist nicht hier. Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wo er hingegangen ist.« Er zuckte die Achseln.
Cassie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe ihn einfach nicht«, murmelte sie.
»Falls es dir irgendeine Hilfe ist: Seit du ihm den Laufpass gegeben hast, steht er wirklich völlig neben sich. In letzter Zeit verstehe ich ihn auch nicht mehr.«
Er hat mir den Laufpass gegeben!, hätte sie gerne geschrien. Aber es hatte keinen Sinn. Es war nicht Torvalds Schuld. »Also, sag ihm einfach, dass ich nicht gewartet habe, in Ordnung?«
»Okay, geht klar.«
Cassie drehte sich auf dem Absatz um und schluckte für einen Moment ihren Ärger herunter. »Sag ihm... falls er reden will, findet er mich im Gemeinschaftsraum.«
KAPITEL 9
Die Wut über Ranjits dumme Spielchen lenkte sie zumindest von ihrer Nervosität ab. Im Flur vor dem Gemeinschaftsraum brannten Lichter in schmiedeeisernen Wandhaltern und die massive Tür sah sehr einschüchternd aus. Cassie hämmerte gegen das dunkle, geschnitzte Holz.
Könnte ein wenig heftig gewesen sein, dachte sie und schluckte, als die Tür aufschwang und den Blick auf die bereits versammelten Auserwählten freigab. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern reichte von Neugier über milde Überraschung bis hin zu unverhohlener Feindseligkeit. Sie vermied jeden Blickkontakt und stellte fest, dass der Raum sehr opulent eingerichtet war mit buntem Glas, vergoldeten Bögen und teuren Kelims. Ein sanftes, warmes Licht erhellte ihn. Durch die offenen Fenster sah man die Gärten. Cassie roch die salzige Meeresluft, die von einem erdigen Geranienduft durchzogen wurde.
»Cassie!«
Gott sei Dank. Ein freundliches Gesicht. Ayeesha kam herbeigeeilt und umarmte sie herzlich.
»Ich freue mich ja so, dass du gekommen bist. Wir freuen uns!« Leicht trotzig sah Ayeesha mehrere ihrer Kameraden an. »Komm herein und trink etwas. Mittlerweile kennst du bestimmt alle. Oder, nein — komm, ich möchte dir Saski vorstellen. Ich weiß nicht, ob du sie schon kennengelernt hast...«
Cassie schenkte Saski ein mitfühlendes Lächeln, aber das Mädchen schien nichts anderes zu empfinden als triumphierende Erregung über ihren neuen Status. Während sie sich mit ihr unterhielt, konzentrierte Cassie ihren Blick und ließ ihn in die Brust des Mädchens eindringen, um den Geist zu betrachten, der dort wohnte. Eine verhalten machtvolle Aura mit einer Spur Boshaftigkeit oder vielleicht einfach nur Schabernack. Cassie entspannte sich und plauderte mit den anderen. Dabei besah sie sich jeden einzelnen der Auserwählten ganz genau. Sie waren so, wie sie sie in Erinnerung gehabt hatte. Die Starken und die Schwachen; die Bösen und die aufrichtig Guten. Die Geister hatten sich wie gewöhnlich entsprechend ihrer Charaktere gruppiert, und die Furchtsamen zog es in den Schutz der Mächtigeren. Einer der Stärksten von ihnen war jedoch nirgends zu sehen. Cassie wurde noch neugieriger. Ranjit konnte unnahbar sein, aber auch wenn er zu seiner Verabredung mit ihr nicht erschienen war, rechnete Cassie halb damit, dass er die Party zu Beginn des neuen Trimesters nicht verpassen würde: sozusagen um sein Territorium zu markieren.
»Hat Ranjit schon vorbeigeschaut?«, erkundigte sie sich beiläufig bei Ayeesha.
»Nein.« Ayeesha blinzelte, als sei ihr das gerade erst aufgefallen. »Nein, er war noch nicht hier. Aber er wird bestimmt noch kommen, oder?«
Cassie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
»Oh! Oh, ich verstehe. Also seid ihr nicht mehr... Ich war mir nicht sicher, ob ...«
»Nein. Wir sind nicht mehr.«
Ayeesha machte ein enttäuschtes Gesicht. »Das tut mir leid, Cassie. Wirklich. Du und er, ihr wart...«
»Ja«, unterbrach Cassie sie. »Aber es ist vorbei. Aus und vorbei.« Und sie würde sich keine Sekunde länger mehr den Kopf wegen Ranjits alberner Streiche zerbrechen.
Ayeesha zögerte, dann lächelte sie entschuldigend. »Okay. Tut mir natürlich leid. Hör mal, warum kommst du nicht mit rüber zu Yusuf und India? Sie haben immer etwas
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