Dunkle Seelen
nervöse Energie breitgemacht.
Mr Haswell rief den Kurs zur Ordnung und bat sie, ihre Plätze einzunehmen. Aber Cassie war eine Auserwählte, nicht wahr? Sie pochte nicht oft auf ihren Status und für gewöhnlich niemals vor Lehrern. Doch vielleicht war es an der Zeit, damit anzufangen. Sie ging direkt in den hinteren Teil des Klassenzimmers und beugte sich zu Ayeesha herunter, um mit ihr zu reden.
»Er ist einfach nicht zurückgekommen«, sagte Ayeeshas Nachbarin Lara gerade. »Niemand weiß, was geschehen ist.«
Cassie unterbrach sie. »Aber es gibt keinen Grund zur Panik, nicht wahr? Ranjit ist doch früher schon verschwunden.«
Lara blinzelte und schüttelte den Kopf. »Wovon redest du?«
»Es ist keine große Sache«, murmelte Cassie. »Warum machen alle so ein Theater deswegen?«
»Es geht nicht um Ranjit«, erklärte Ayeesha. »Wir alle wissen, wie er ist; er schwänzt ständig irgendwelche Kurse. Es geht um Yusuf.«
Einen Moment lang hatte Cassie das Gefühl, in eine Parallelwelt gestürzt zu sein. »Was?«
»Yusuf Ahmed«, sagte Lara geduldig, als gäbe es noch einen anderen Yusuf an der Schule. »Er ist gestern Nacht nicht in die Akademie zurückgekehrt. Und auch heute früh keine Spur von ihm. Die Leute fangen an, sich Fragen zu stellen.«
Cassie lachte. »Ihr macht euch Sorgen um Yusuf? Wahrscheinlich ist er im Bett irgendeines armen Mädchens eingeschlafen und wird genau in diesem Augenblick von ihrem erzürnten Vater verprügelt!«
Ayeesha lachte nicht. »Das glaube ich nicht. Man hat am Hafen unweit der Sultan-Ahmet-Moschee seine Brieftasche gefunden. Seine Kreditkarten, sein Bargeld: alles weg.«
Cassie wusste nicht, was sie sagen sollte, und Mr Haswell wurde jetzt tatsächlich ungeduldig. Also kehrte sie in den vorderen Teil des Klassenzimmers zurück und setzte sich neben Isabella.
Yusuf hatte seine Brieftasche verloren. Na und? Vielleicht hatte er sie fallen lassen. Unwahrscheinlich. Aber noch unwahrscheinlicher war es, dass er einem Straßenräuber zum Opfer gefallen war. Er war ein Auserwählter, um Himmels willen! Der Dieb würde es bereuen.
Also hatte Yusuf die Brieftasche irgendwo liegen lassen. Ein Dieb hatte sie gefunden, sie geleert und sie weggeworfen. Das war die einzige Erklärung.
Das geht uns nichts an, meine Liebe!
Sie hat recht, dachte Cassie. Es hatte wirklich nichts mit ihr zu tun. Und wahrscheinlich steckte ohnehin nichts dahinter. Yusuf konnte auf sich selbst aufpassen.
Trotzdem vermochte sie ihren Gedanken keinen Einhalt zu gebieten... in den letzten Tage war nichts von Ranjit zu sehen gewesen, und jetzt war Yusuf eben falls verschwunden? Das war doch ein seltsamer Zufall. Konnte ihr Verschwinden zusammenhängen? Wie sehr sie auch versuchte, diesen Gedanken abzuschütteln, er lastete auf ihr wie ein Bleigewicht.
Torvald. Hatte er vielleicht irgendetwas gehört? Wenn sie mit ihm sprechen konnte, dann konnte sie die Angelegenheit vielleicht ein und für alle Mal klären — vor allem da sie sich fest vorgenommen hatte, sich keine Sorgen um Ranjit zu machen. Und sie war nicht besorgt, oder? Sie wollte lediglich Klarheit.
Nach dem Unterricht wollte sie zu Torvald hinüberlaufen, aber Mr Haswell hielt sie auf, weil er eine Frage zu einer Hausarbeit hatte. Als Cassie sich endlich loseisen konnte, hatte sie Torvald um Haaresbreite verpasst, und sie hatte keine Ahnung, welches sein nächstes Fach war.
Ach, vergiss es. Was konnte sie schon tun? Außerdem wollte sie nicht, dass Torvald Ranjit erzählte, sie habe verzweifelt nach ihm gesucht oder sich Sorgen um ihn gemacht. Es konnte gut sein, dass Ranjit tatsächlich versuchte, ihr Angst einzujagen, und sie irgendwie auf verdrehte Weise manipulieren wollte. Zuzutrauen wäre es ihm und sie würde ihm den Gefallen gewiss nicht tun.
Ganz recht, meine Liebe. Ignoriere ihn!
Gospodin Chelnikov war weniger geneigt, den leise gemurmelten Klatsch zu ertragen, als Mr Haswell es gewesen war. Während die Schüler einer nach dem anderen ins Chemielabor traten, klatschte der Russe in die Hände, und seine Augen waren so kalt und grimmig, dass selbst die Auserwählten ohne großes Theater Platz nahmen.
»Ruhe, alle zusammen. Ich weiß, dass einige Gerüchte in Bezug auf Yusuf Ahmed die Runde machen. Es ist verständlich, dass ihr alle besorgt seid. Da es aber nun langsam den Unterricht beeinträchtigt, hat Sir Alric mich gebeten, mit euch darüber zu reden.«
»Wie erklären Sie...«, unterbrach jemand aus der ersten
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