Dunkle Seelen
und schaute stirnrunzelnd in den Spiegel.
Der Anrufer war Ranjit Singh.
»Was zum Teufel willst du?«, murmelte Cassie in Richtung des Handys. Dann holte sie tief Luft und schob es bedächtig in ihre Tasche zurück. Auf keinen Fall. Sie fühlte sich sowieso schon so mies, weil sie Isabella enttäuscht hatte. Und außerdem war sie wegen ihres Besuchs im Gemeinschaftsraum nervös, was, oh ja, genau die Art von Gelegenheit war, bei der Ranjit eine Möglichkeit gefunden hätte, sie im Stich zu lassen.
Sie ließ das Handy weiter vibrieren und seufzte erleichtert, als es endlich aufhörte.
Später dachte Cassie, dass sie sich erstaunlich gut gehalten hatte. Alles in allem hatte sie sich bemerkens-
wert lange beherrscht. Es verging eine ganze Stunde, bevor sie schließlich aufgab und auf das beharrliche Piepen reagierte, das eine eingegangene Voicemail signalisierte. Und das auch nur, weil Estelle auf sie eingeredet hatte, dass Ranjit möglicherweise etwas während der Zusammenkunft heute Abend geplant hatte und sie sich darauf einstellen müsse.
Sie schloss die Tür zu ihrem Zimmer, schloss die Augen und seufzte. Natürlich musste sie die Nachricht abhören. Es hinter sich bringen. Sonst würde sie sich für ihr unmittelbar bevorstehendes Gemeinschaftsraummartyrium niemals entspannen können ...
Bevor sie ihre Meinung wieder ändern konnte, klappte sie das Handy auf, tippte die Nummer ein und drückte es sich ans Ohr.
»Cassie.« Seine Stimme auf der Mailbox klang atemlos, verzweifelt. »Cassie, ich weiß, du wirst nicht drangehen, aber hör mich an. Bitte.« Ein zittriger Atemzug. Er war nicht nur nervös, dachte sie stirnrunzelnd. In seiner Stimme schwang noch etwas anderes mit. Eine starke, unterdrückte Erregung.
»Triff mich um sieben, okay? In meinem Zimmer. Ich werde dich nicht bedrängen, versprochen. Ich weiß... Hör zu, ich weiß, dass du mir nicht mehr vertraust. Das ist in Ordnung. Ich habe dich im Stich gelassen, aber ich will das wiedergutmachen, wirklich. «Verlegenes Lachen. »Mein Gott, es ist ein solcher Glücksfall, dass wir dieses Jahr in Istanbul sind! Glaub mir, Cassie, ich kann das in Ordnung bringen. Ich WERDE es in Ordnung bringen. Ich habe es fast geschafft. Schon bald kann ich … alte Wunden heilen, wenn du so willst.« Eine Pause, dann ein weiteres hohes, ironisches Lachen. »Oder vielleicht sollte ich sagen >alte Bande lösen<.«
Wieder zögerte er, als wolle er noch mehr sagen, und sie drückte sich das Handy fester ans Ohr, so fest, dass es wehtat. Aber es kam nichts mehr. Nach einigen Sekunden war die Leitung tot.
Alte Wunden heilen? Was sollte das bedeuten? Wollte er sie mit diesem melodramatischen Blödsinn in sein Zimmer locken?, überlegte sie wütend. Alte Bande lösen. Arschloch!
Dann dachte sie an Estelle, an den geteilten Zustand ihres Geistes, an den Teil von Estelle, der außerhalb von Cassie verblieben war, und sie schauderte ...
Sie wusste nicht, was mächtiger war, ihre Wut über seine Unverfrorenheit oder ihre unerträgliche Neugier. Obwohl, das stimmte nicht. Natürlich würde ihre Neugier siegen. Das wusste er, nicht wahr? Als ihr das durch den Kopf ging, während sie zu seinem Zimmer im oberen Flur hinaufstürmte, wurde sie noch wütender.
Ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee ist, Cassandra ...
Cassie ignorierte Estelles vorsichtigen Einwurf. Zögernd stand sie vor seiner Tür und schaute auf ihre Arm- banduhr. Zwei Minuten nach sieben. Nicht annähernd genug Verspätung. Eigentlich hätte sie ihn viel länger schmoren lassen sollen, aber es würde reichen müssen. Schließlich hatte sie allerhand anderes zu tun. Sie stand ja nicht auf Abruf für ihn parat.
Ihr Klopfen musste geklungen haben, als versuche sie die Tür einzurennen.
Sie wurde aufgerissen. Nicht Ranjit, stellte sie fest und trat überrascht einen Schritt zurück. Torvald, sein Mitbewohner. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Torvald offensichtlich auch nicht. Er wirkte ein wenig verwundert.
»Cassie? Hey. Was liegt an?«
»Hey. Ist Ranjit da? Ich habe eine Nachricht von ihm bekommen.«
»Nein ...«, antwortete Torvald. »Ich weiß nicht, wo er ist. Aber ich habe ihn ja auch nicht mit einem Peilsender ausgestattet«, fügte er mit einem trockenen Lächeln hinzu. »Vielleicht hast du ihn falsch verstanden?«
Cassie war verwirrt. »Nein, er hat ganz klar gesagt, um sieben Uhr hier.«
Torvald legte die Stirn in Falten. »Hör zu, Cassie. Es geht mich eigentlich nichts an,
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