Dunkle Seelen
das Bösartigste aller Geschöpfe gewesen, und während jene, die nachfolgten, an Zahl zunahmen, war seine Macht außer Kontrolle geraten.
Anscheinend war er auch derjenige gewesen, der das Messer geschaffen hatte. Mit der Fingerspitze zeichnete Cassie das Bild auf der Seite nach: die Klinge, der kunstvolle Griff mit den ineinander verschlungenen mythischen Kreaturen. Bei dem Gedanken an das reale Messer verzog sie unwillkürlich das Gesicht. Die meisten hassten oder fürchteten diese Klinge, aber Cassie empfand nichts weiter als Faszination. Das Messer war wunderschön, lebendig und tödlich. Warum zog es sie so sehr an? Und was sagte das über sie aus?
Dann erregte etwas ihre Aufmerksamkeit und ihr stockte der Atem. Dem Manuskript zufolge diente das Messer einem speziellen Zweck. Nur diese Klinge war in der Lage, die Verbindung zwischen Geist und Wirt zu durchtrennen...
Nur dieses Messer oder der Tod
selbst vermögen das Band zu lösen.
Cassie war sprachlos. Das war die Lösung, nach der sie zu Beginn des letzten Trimesters gesucht hatte, als sie sich verzweifelt gewünscht hatte, Estelles Geist loszuwerden. Was sollte sie davon halten, dass sie das Werkzeug dazu möglicherweise die ganze Zeit direkt vor ihrer Nase gehabt hatte?
Nein, Cassandra, lass uns nicht an diese dunkle Zeit zurückdenken. Wir sind jetzt zusammen, wir sind stark...
In Estelles Stimme schwang eindeutig Angst mit, aber Cassies wachsendes Erstaunen übertönte sie für den Moment.
Denn es schien, als hätten die Ältesten mehr geschaffen als nur das Messer. Cassie rieb sich die Stirn und versuchte, ihre Kopfschmerzen wegzumassieren. Die konnte sie jetzt gar nicht gebrauchen. Dann las sie mit zusammengekniffenen Augen mehrmals die Einzelheiten über die anderen Artefakte — einen Anhänger und eine Urne.
Die Bilder beider Gegenstände hatten etwas unheimlich Vertrautes, als seien sie aus dem gleichen Material geformt worden wie das Messer. Sie berührte die eingescannten Gravuren des Anhängers. Er war aus Jade, verriet das Manuskript, aber er ähnelte keinem Schmuckstück,: das sie je gesehen hatte. Wie das Messer war er mit sich windenden, knurrenden Bestien verziert. Sie blickte auf die vertrauten Katzen, Meerjungfrauen, Karyatiden und die weniger leicht zu erkennenden Kreaturen, die sie nie hatte benennen können.
Für eine gewisse Zeit mag der Anhänger dazu
benutzt werden, den Geist aus seinem
Wirt herauszuziehen..
Das erinnerte sie unangenehm an das, was sie als ihre »gebrochenen« Kräfte betrachtete - ein Teil von Estelles Geist war außerhalb von ihr gefangen und verhalf ihr zuunerklärlichen Fähigkeiten. Allein durch die Kraft ihres Geistes konnte sie Dinge kontrollieren, sie bewegen und sie beeinflussen...
Und die Urne. Während sie die Worte noch einmal las, wurden Cassies Augen vor Erstaunen so groß, dass
sie schmerzten. Sie musste heftig blinzeln, um den gestochen scharfen Text zu entziffern.
Die Urne vermag einen Geist auf unbegrenzte Zeit
zu beherbergen und zu bewahren.
Warum genau sollte jemand einen Geist irgendwo anders als im Körper eines Wirts beherbergen und bewah- ren wollen...?
Von dort aus vermag die Energie
des Geistes verzehrt werden.
Auf diese Weise schuf der Älteste
das schlimmste Übel. Und daher beschlossen
die Ältesten, dass er, der Älteste, besiegt
und gefangen genommen werden musste.
Aha. Es schien, als hätte der Älteste Auserwählte nach mehr als nur nach alltäglicher menschlicher Lebenskraft gehungert.
Es war alles so viel auf einmal. Wenn nicht nur das Messer von einer verlorenen Auserwähltenkultur übrig geblieben war, dann hatte sie vielleicht doch etwas anderes in Ranjit gespürt? Es konnte jedes der anderen Arte-fakte gewesen sein.War es möglich, dass Yusuf nicht durch das Messer getötet und ausgesaugt worden war? Dass Jake vielleicht nicht der Schuldige war?
Aber wenn nicht er, wer dann?
Schaudernd blätterte Cassie um und stieß auf eine gute Nachricht. Obwohl ihr nicht entging, wie ironisch es war, dass sie diesen Teil der Geschichte der Auserwählten als etwas Gutes erachtete. Vor allem angesichts der Ereignisse des vergangenen Trimesters...
Die Ältesten hatten einen Rat gebildet (ja, das klang vertraut), der stark genug war, um den Ältesten Auser- wählten zu besiegen. Er war geflohen und nie wieder aufgetaucht. Der Rat, der die schreckliche, seinen Schöp- fungen innewohnende Macht erkannt hatte, hatte die Artefakte verschwinden lassen. Aus
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