Dunkle Seelen
beobachtet!
Cassie rührte sich nicht. Estelle hatte recht. Sie kannte dieses intensive Gefühl, dieses Wissen, beobachtet zu werden. Sie hatte es bereits in Cukurcuma gespürt. Sie sammelte sich einen Augenblick, holte dann tief Luft und fuhr auf dem Absatz herum.
Eine schnelle Bewegung - kaum wahrnehmbar. Aber irgendjemand war am Ende der Gasse hinter ein hohes Gebäude geschlüpft. Cassie kniff die Augen zusammen, dann rannte sie um die Ecke.
Nichts. Niemand.
Schwer atmend und verunsichert blieb sie stehen. War dort jemand gewesen oder hatte ihr ihre überaktive Fantasie wieder einmal einen Streich gespielt?
Hör auf, dich selbst zu belügen, meine Liebe! Du weißt es, wenn du beobachtet wirst. Du weißt es so gut wie ich ...
»Estelle«, murmelte sie. »Estelle, war er es? War es Ranjit?«
Estelle schwieg einen Moment, als hätte Cassie sie überrascht.
Oh je, Cassandra. Du darfst dir nicht länger etwas vormachen. Natürlich war er es nicht!
Cassie war sich darüber im Klaren, dass sie die Blicke der Passanten auf sich zog — wie sie hier stand und wie eine Wahnsinnige Selbstgespräche führte -, trotzdem blaffte sie Estelle wütend an. »Wie kannst du dir so sicher sein?«, zischte sie.
Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, sein Geist und ich, lange bevor du dich unserer kleinen Soiree angeschlossen hast...
»Na und? Ich kenne dieses Gefühl. Ich habe es schon mal gespürt. Ich bin verfolgt worden, von Ranjit, und ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn seine Augen ..., wenn er mich beobachtet!« Sie atmete mehrmals tief durch und in ihren Augen brannten verzweifelte Tränen. Doch der Geist ließ sich nicht beirren.
Ha! Denkst du, ich kenne es nicht? Da täuschst du dich, meine Liebe. Du glaubst, was du glauben willst.
Wütend schüttelte Cassie sie ab. War es Wunschdenken? Wollte sie nur glauben, dass Ranjit ihr folgte? Dass er sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht zeigte, es jedoch nicht fertig brachte, sie aus den Augen zu lassen? Wenn man darüber nachdachte, schien es völlig absurd und unwahrscheinlich.
Aber genauso hatte es sich beim letzten Mal angefühlt. Sie hatte das gleiche starke Kribbeln ängstlicher Erwartung gespürt, als Ranjit ihr durch die Flure der Akademie gefolgt war. Sie war sich sicher gewesen, um die Ecke zu biegen und in seine goldglühenden, animalischen Augen zu sehen. So voller Hoffnung zu sein - und sich dann so zu irren -, versetzte ihrem Herz einen bitteren Stich. Hinzu kam die schreckliche Erkenntnis, dass sie einsam war, dass sie Isabella wie verrückt vermisste.
Okay, sie musste sich beruhigen. Entweder wurde sie paranoid und entwickelte einen Verfolgungswahn, oder irgendeine finstere Gestalt verfolgte sie tatsächlich. Keine der beiden Optionen verhieß Gutes für ihr gesellschaftliches Leben - oder ihr Leben im Allgemeinen. Doch egal, welche es war, sie sollte besser bei Kräften bleiben...
Ein Köfte-Verkäufer auf dem Gehsteig neben ihr musterte sie sichtlich nervös. Cassie schüttelte sich und brachte ein angespanntes Lächeln zuwege. Sie hatte unerwartet Hunger. Diesen unvermittelten Hunger, der sie überfiel, wenn sie nicht genug Nahrung zu sich genommen oder zu viel Energie verbraucht hatte. Köfte war wohl der Imbiss, der sie am wenigsten auf Dauer sättigen würde, aber sie kaufte trotzdem einen, gefüllt mit gerösteten Peperoni und zwischen zwei Scheiben öligen Brotes steckend. Sie biss mit solcher Wildheit hinein, dass der Verkäufer zusammenzuckte und verlegen in die andere Richtung schaute.
KAPITEL 21
Latein war weder ihr Lieblingsfach noch ihr bestes Fach. Es hatte all diese Jahrhunderte gewartet; es würde auch noch weitere neunzig Minuten ohne sie verkraften. Cassie würde keine Minute länger warten und schon gar keine unendlich lange Doppelstunde mit dem verdammten Virgil. Yusuf und Mikhail waren tot, und Ranjit konnte der Nächste sein.Vielleicht war er es bereits — nein! Sie weigerte sich, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Aber da sie immer noch nichts von ihm gehört hatte, war Cassie jetzt der festen Überzeugung, dass es an der Zeit sei, die Initiative zu ergreifen.
Es gab nur einen Ort, an dem sie mit der Suche anfangen konnte. Cassie ging direkt zu Ranjits Zimmer und hegte die leise Hoffnung, es leer vorzufinden, damit sie ungestört heumstöbern konnte. Doch es sollte nicht sein. Als die Tür auf ihr Klopfen hin geöffnet wurde, stockte ihr der Atem und ihr Herz tat einen Satz - so unvernünf-tig
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