Dunkle Seelen
Artefakte schilderten, vertiefte sie sich erneut in den Text.
Für eine gewisse Zeit
mag der Anhänger dazu benutzt werden,
den Geist aus seinem Wirt herauszuziehen.
Oh, Gott.
Sie blätterte weiter.
Das Meer mag die Verbindung
zwischen Geist und Wirt zu durchtrennen.
Nur dieses Messer oder der Tod
selbst vermögen das Band zu lösen.
Cassie blinzelte. Was hatte Ranjit zu Beginn des Trimesters noch gleich zu ihr gesagt?
»Ich habe einen Weg gefunden, wie wir zusammen sein können... Wir werden zusammen sein. Das verspreche ich dir.«
Das musste nicht unbedingt eine Unheil verkündende Bedeutung haben. Wirklich nicht. Aber da war noch mehr. Etwas anderes ging ihr im Kopf herum, etwas, woran sie sich nicht erinnern wollte, woran sie sich jedoch erinnern musste. Komm schon, Cassie! Sie raufte sich die Haare und versuchte, die Erinnerung freizuschütteln. Und dann fiel es ihr tatsächlich wieder ein.
Ranjits letzter verzweifelter, hektischer Anruf.
»Ich habe es fast geschafft. Schon bald kann ich ... alte Wunden heilen, wenn du so willst... Oder vielleicht sollte ich sagen >alte Bande lösen<.«
Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Ranjit hatte sie nach dem Messer gefragt. Und das Symbol, das er in der Hagia Sophia fotografiert hatte: Sie war beinahe sicher, dass es deutliche Ähnlichkeit mit dem Symbol im Manuskript haben würde, unter dem angeblich der Anhänger lag. Hatte Ranjit ihn also gefunden?
Mit einem Mal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und ihr wurde übel. Ganz plötzlich wusste sie, was an jenem Tag in Sir Alrics Arbeitszimmer gefehlt hatte. Dark war so zerstreut gewesen, so nervös, und er hatte sein eigenes Büro auf den Kopf gestellt, um nach etwas zu suchen. Ja, etwas hatte gefehlt. Die bleiche, kunstvolle Jadevase, die das Licht so hübsch reflektiert hatte. Eine Vase? Nein.
Die Urne.
Sir Alric musste die Urne gefunden haben, und welches Versteck wäre besser geeignet gewesen als eins vor aller Augen? Cassie schluckte heftig. Die Urne, die einen Geist auf unbegrenzte Zeit beherbergen und bewahren konnte...
Cassandra, NEIN! Lass das nicht z u... auf keinen Fall. Wir müssen SOFORT von hier verschwinden!
»Alte Bande lösen...«, flüsterte Cassie schockiert und mit zitternder Stimme. »Oh, mein Gott. Ranjit.« Sie schloss die Augen. Sie spürte die Furcht in allen Fasern ihres Körpers. Was hatte Ranjit vor?
Was hatte er getan?
KAPITEL 23
Darauf verstand Cassie sich ausgezeichnet. Wie sollte es auch anders sein. Nachdem sie die schlaflose Streunerin vom Cranlake Crescent gewesen war, war sie an der Dark Academy selbstverständlich und mühelos in die gleiche Rolle geschlüpft. Ja, die Schulspionin. Warum auch nicht? Leise und einsam durchstreifte sie abermals die Flure. Ob wohl sie natürlich niemals ganz allein war. Sosehr Cassie sich auch bemühte, Estelles Missbilligung war nicht zu überhören.
Cassandra, du musst mir zuhören. Du machst einen Fehler von überwältigenden Ausmaßen. Wir müssen uns so weit wie nur möglich von dieser Verschwörung fernhalten ...Er beabsichtigt, uns zu trennen... Cassandra, bitte...!
Cassie holte tief Luft und verbannte die Stimme des Geistes so weit wie möglich in ihren Hinterkopf. Sie würde auf keinen Fall kehrtmachen. Wenn sie die richtigen Schlüsse gezogen hatte, wenn Ranjit das Manuskript der Auserwählten oder zumindest einen Teil davon dekodiert hatte und versuchte, die Artefakte aufzuspüren, dann bestand nicht der geringste Zweifel, dass Sir Alric Dark es inzwischen ebenfalls wusste. Ihr blieb nichts anders übrig. Sie musste sein Büro durchsuchen und herausfinden, was er wusste, wie nahe er Ranjit schon gekommen war. Es regte sich nichts, während Cassie durch die verdunkelten Flure schlich und das Licht der filigranen Lampen mied. Selbst von Marat war nichts zu sehen. Vielleicht reichte eine Leiche ihm für den Augenblick, sodass er nicht das Bedürfnis verspürte, Intrigen zu spinnen oder herumzuschnüffeln.
Vor Sir Alrics Büro blieb Cassie still und reglos stehen, die Ohren gespitzt, um jedes Geräusch aufzufangen. Sie hörte das Rascheln einer Katze im Garten sowie das verängstigte Quieken einer Maus und aus weiter Ferne wehten die Geräusche der Stadt über den stillen Bosporus: Verkehr, Autohupen und Musikfetzen.
Die Tür war natürlich verschlossen. Diesmal konnte sie das Schloss nicht aufbrechen, da sie sich nicht wie bei früheren Gelegenheiten eine goldene Haarnadel von Isabella hatte borgen
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