Dunkle Seelen
Noch mehr E-Mails. Noch eine von seiner Mutter, jetzt eine von seinem Vater. Von seinen Brüdern, von jedem eine.
Als die Liste endlich komplett war, schob sie den Stuhl zurück. »Nichts«, sagte sie, obwohl sie das Gefühl nicht loswurde, dass es alles andere als nichts war. »Ich werde es mit seiner Voicemail versuchen.«
Es war dieselbe Geschichte. Glücklicherweise war es auch dasselbe Passwort. Schuldgefühle krampften ihr den Magen zusammen. Hatte er sie wirklich so sehr vermisst, wie Torvald behauptete? Sie konnte sich nicht damit abfinden, nichts gefunden zu haben. Deswegen setzte sie sich wieder an den Laptop und öffnete in einem anderen Fenster eine Liste von Ranjits Dokumenten.
»Also, was denkst du?«( Torvald klang ungeduldig.
»Moment.« Zunehmend frustriert und verzweifelt, scrollte sie die Dokumentenliste hinunter. Es waren so viele. Sollte sie jede einzelne Datei öffnen? Auch wenn alles nach unschuldigen Hausaufgaben aussah, konnten sich hinter einem verrückten Dateinamen nützliche Informationen verbergen...
Etwas erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie scrollte wieder nach oben.
Suchergebnissse
Kein besonders mysteriöser Name. Aber es war passwortgeschützt. Sie versuchte es noch einmal.
cassandra
Nein... Sie kaute an einem Fingernagel. Na ja, einen Versuch war es wert. Sie tippte ihr Geburtsdatum ein.
Bingo!
Torvald beugte sich mit angespanntem Interesse über ihre Schulter, während die pdf-Datei eines eingescann- ten Textes geladen wurde. Irgendeine Art von Manuskript, Seiten um Seiten. »Was ist das? Es sieht uralt aus«, sagte er mit neugieriger, gepresster Stimme.
Cassie holte tief Luft. »Ja, es sieht tatsächlich ziemlich alt aus. Könnte natürlich eine Fälschung sein. Etwas, das er im Netz gefunden hat...«
Sie redete Unsinn und sie wusste es. Dies war ein altes Dokument, und sie begriff sofort, dass es sich um etwas Wichtiges handelte. Die verblasste Schrift war antiquiert, aber sie konnte sie gerade noch entziffern — und nicht nur das: Da waren Symbole, Muster, uralte Zeichen, ähnlich Bildern, die sie schon früher einmal gesehen hatte. Besonders ein Bild war ihr schon öfter aufgefallen. Sie kannte es von der öffentlichen Bibliothek in New York, vom Arc de Triomphe und von ihrem eigenen Schulterblatt, auf dem es in unvollständiger Form prangte.
Eines wusste sie mit Bestimmtheit: Sie wollte nicht dass Torvald ihr über die Schulter schaute, während sie
das Dokument entzifferte. Hastig klickte sie auf Ausdrucken und schloss das Fenster.
»Aber was war das?« Enttäuscht und ein wenig verärgert trat er zurück.
»Ich... ich habe keine Ahnung, wirklich. Es könnte wichtig sein oder auch nicht. Ich nehme den Ausdruck mit und sehe ihn mir an, okay? Ich, ähm... habe jetzt Unterricht «, log sie.
Er runzelte die Stirn. »Na schön. Ich kapier schon. Es handelt sich um etwas, das die Auserwählten betrifft, stimmt s?« Er hielt für einen Moment inne und zeigte sich dann versöhnlicher. »Hör mal. Versprich mir, dass du mir Bescheid sagst, wenn du etwas findest, okay?« Er zögerte. »Ich vermisse ihn nämlich auch.«
»Natürlich sage ich dir Bescheid.« Sie zwang sich zu etwas, von dem sie hoffte, dass es aussah wie ein unbe- sorgtes Lächeln, dann schloss sie das Dokument und rollte den Ausdruck zusammen, wobei sie ihn vor Torvalds neugierigem Blick verbarg. »Sobald ich etwas weiß. Aber wir sollten uns noch keine allzu großen Hoffnungen machen, hm?«
Sie hatte Angst, dass er sie noch länger aufhalten würde, aber das tat er nicht. Kaum hatte sie Ranjits Zimmer verlassen und die Tür fest hinter sich geschlossen, rannte sie zu ihrem eigenen Zimmer. Es war Zeit, herauszufinden, was zum Teufel hier vor sich ging.
KAPITEL 22
Auf ihrem Zimmer holte Cassie erst einmal tief Luft und zog ihren Schreibtischstuhl hervor. Dann legte sie die ausgedruckten Seiten auf das glatte Holz ihres Schreibtischs, setzte sich und blätterte sie hastig durch, in der ver- zweifelten Hoffnung, einen Hinweis zu finden. An manchen Stellen waren die Seiten unscharf, teilweise nicht zu entziffern, aber das Wesentliche begriff sie trotzdem. In dem allzu stillen Raum hörte Cassie das Blut in ihren Ohren rauschen, während sie mit dem Zeigefinger über die Überschrift der ersten Seite fuhr.
Kräfte und Natur der Ältesten Ausgewählten
Die Ältesten Auserwählten. Allein bei dem Namen überlief sie ein instinktiver Schauder. Diesem Dokument zufolge war der allererste Auserwählte
Weitere Kostenlose Bücher