Dunkle Wasser
versuchen«, sagte Tom und runzelte besorgt die Stirn. »Was ich da flüstern höre, gefällt mir nicht. Kein Mensch hat Fanny seit längerer Zeit gesehen, nicht so wie früher, bevor du wiedergekommen bist. Es gab eine Zeit, wo Fanny überall aufgetaucht ist und mit ihren neuen Kleidern und den vielen Sachen, die ihr die Wises geschenkt haben, angegeben hat. Jetzt kommt sie nicht einmal mehr zum Gottesdienst oder zu sonst einer gesellschaftlichen Veranstaltung – und Rosalynn Wise auch nicht.«
»Wahrscheinlich, um mir aus dem Weg zu gehen«, stellte ich verbittert fest, »und Mrs. Wise bleibt zu Hause, damit sie darauf achten kann, daß Fanny in ihrem Zimmer bleibt. Kaum werde ich fort sein, wird Fanny wieder aus ihrem Versteck auftauchen.«
In einem Fernfahrer-Lokal nahmen wir ein herzhaftes Frühstück zu uns. Wir erinnerten uns lachend und kichernd an die vielen kargen Mahlzeiten, als wir noch in den Willies gelebt hatten. »Hast du dich schon für eine der Schwestern entschieden?« fragte ich Tom, der darauf bestand, die Rechnung zu bezahlen.
»Nee.« Er lächelte betreten und schüchtern. »Mag sie beide.
Aber Buck Henry hat mir gesagt, wenn ich Thalia heirate, schickt er mich aufs College und überläßt Thalia die Farm.
Sollte ich Laurie wählen, muß ich meinen eigenen Weg machen… Also hab’ ich mich entschlossen, keine von beiden zu nehmen. Ich werd’ gleich nach der Schule fortgehen und versuchen, auf meinen eigenen zwei Beinen zu stehen.« Bis jetzt hatte er unbeschwert geklungen, aber auf einmal schien er sorgenvoll und bedrückt. »Wie wär’s, wenn du mich nach Boston mitnähmst?«
Ich ergriff seine Hand und war erfreut, daß er genau die Worte gesagt hatte, die ich hören wollte. Die Menschen in Boston würden bestimmt nicht so viele Vorurteile haben wie hier; sie würden das Wertvolle einer Person erkennen. Es wäre bestimmt leicht, einen Job in Boston zu finden; dann könnte ich Cal immer Geld für Kittys Krankenpflege schicken. Er hatte zwar schon das Haus in Candlewick zum Verkauf angeboten, aber wenn Kitty nicht bald gesund würde, dann reichte dieses Geld auch nicht aus…
»Heavenly, schau nicht so drein. Es wird alles gut, du wirst schon sehen.« Arm in Arm spazierten wir zum Altersheim, um Großvater zu besuchen.
»Er ist nicht da«, verkündete Sally, nachdem sie endlich auf Toms lautes Klopfen die Tür aufgemacht hatte. »Ihr Vater war hier und hat ihn mitgenommen.«
»Vater war da!« rief Tom begeistert. »Und wo ist er mit Großvater hingegangen?«
Darüber konnte uns Sally Trench keine Auskunft geben.
»Sind so ungefähr vor einer halben Stunde weggegangen«, sagte sie noch, bevor sie uns die Tür vor der Nase zuschlug.
»Vielleicht ist Vater noch in der Stadt, Heavenly!« sagte Tom aufgeregt. »Wenn wir uns beeilen, dann erwischen wir ihn eventuell noch!«
»Ich will ihn nie mehr wiedersehen, nie mehr!« rief ich empört.
»Aber ich! Er ist der einzige, der uns verraten kann, wo wir Keith und Unsere-Jane finden können.«
Wir rannten beide los. Es war recht einfach, ganz Winnerrow zu durchkämmen; es bestand aus einer Hauptstraße mit zwölf Seitenstraßen. Während wir alle Straßen abklapperten, blickten wir auch kurz in die Geschäfte hinein und erkundigten uns bei Fußgängern nach Vater. Bei der sechsten Person hatten wir Glück; der Mann hatte Vater gesehen. »Ich glaub’, er wollt’
zum Krankenhaus.«
Warum wollte er dahin? »Geh du allein«, sagte ich zu Tom mit tonloser Stimme.
Tom spreizte in einer hilflosen Geste seine großen, abgearbeiteten Hände. Er sah sehr unglücklich drein.
»Heavenly, ich will ehrlich zu dir sein. Ich hab’ dich die ganze Zeit angelogen. Die Photos, die ich dir geschickt habe, stammen von Schulkameradinnen namens Thalia und Laurie.
Buck Henry hat gar keine Kinder mehr, seine liegen auf dem Friedhof begraben. Das schöne Haus gehört Lauries Eltern, es ist sechs Meilen von hier entfernt. Wahrscheinlich war Buck Henrys Haus auch einmal recht hübsch, aber jetzt ist es heruntergekommen und müßte renoviert werden. Er ist ein regelrechter Sklaventreiber, der mich vierzehn Stunden am Tag arbeiten läßt.«
»Willst du damit sagen, daß du mich angelogen hast? Waren alle deine Briefe, die du mir nach Candlewick geschickt hast –
Lügen?«
»Es war alles gelogen. Damit du dir keine Sorgen um mich machst.« Seine Augen flehten um Verständnis. »Ich ahnte schon, was du dir vorstellen würdest, aber ich wollt’ nicht, daß
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