Dunkle Wasser
Stuhl heran.
»Oh, bestens«, sagte Mrs Kinyon, obwohl jeder sehen konnte, dass es ihr nicht bestens ging. »Die Ärzte haben die Wunden am Arm gründlich gesäubert und ihr Antibiotika gegeben. Nun können wir nur noch abwarten.«
»Was abwarten?«, fragte ich.
Mit einem Blick brachte Dad mich zum Schweigen.
Doch Mrs Kinyon antwortete mir trotzdem. »Ob sie ihn behält.« Ihre Miene blieb unverändert. Noch immer wirkte sie stark und selbstbewusst, doch sie hatte angefangen, lautlos zu weinen.
»Was behalten? Ihren Arm?«, kreischte ich entsetzt.
Dad klopfte ihr aufmunternd auf den Rücken. »Offenbar war Gretchen schon eine ganze Weile dabei, Veronica. Sie hat sich Wundbrand zugezogen.«
Da schien mich Mrs Kinyon überhaupt erst wahrzunehmen, ich meine, richtig wahrzunehmen, und die eine Frage, die sie mir nur zu gern gestellt hätte, hielt sie ganz bewusst zurück:
Wenn ihr beide so gut befreundet wart, warum liegt sie dann hier und nicht du?
Mir schossen alle möglichen Dinge durch den Kopf, die ich zu meiner Verteidigung vorbringen könnte.
Gretchen hat mich da rausgehalten. Ganz ungeschoren bin ich auch nicht davongekommen, sie hat sich schließlich meine Sachen unter den Nagel gerissen, um ihre Sucht zu finanzieren
. Aber am Ende lief es darauf hinaus, dass ich einfach dumm gewesen war, und dafür gab es keine Entschuldigung.
Mrs Kinyon wischte sich mit der Hand übers Gesicht, ich bot ihr ein Taschentuch an.
Sie dankte mir ohne die Spur eines Vorwurfs, nur müde hörte sie sich an. Wahrscheinlich wurde ihr gerade klar, dass für jeden von uns genug Schuld blieb – einschließlich Gretchen selbst.
»Viertausend Dollar!«, sagte Mrs Kinyon. »Das kostet es, sie in Riverside unterzubringen. So viel Geld habe ich nicht, Paul. Wo soll ich es nur hernehmen? Ansonsten wird sie das Schuljahr nicht beenden. Und der Sozialarbeiter hat gesagt, dass trotz Riverside die Rückfallquote bei neunzig Prozent liegt.«
Riverside musste eine Entzugsklinik sein.
Erneut tupfte sie sich die Augen. »Ich denke die ganze Zeit darüber nach, welche Möglichkeiten mir bleiben. Und ich habe sogar daran gedacht, sie vor die Tür zu setzen. Kannst du dir das vorstellen? Mein eigenes Kind? Ich meine, was bin ich bloß für eine Mutter? Sie ist doch alles, was ich habe.«
Gern hätte ich die Hand nach ihr ausgestreckt und ihrgesagt, dass schon alles wieder in Ordnung käme, aber ich tat es nicht, weil ich mir selbst nicht sicher war. Wenn das, was wir uns alle wünschten, irgendwie zählte, dann würde Gretchen ihren Arm behalten und wieder zur Schule gehen, geheilt, clean und wachgerüttelt.
»Joanne«, sagte Dad behutsam, seine Stimme war so gedämpft und beruhigend wie die Beleuchtung in Gretchens Kabine. »Nimm den Platz an. Bei den Kosten helfen wir dir. Wir finden schon einen Weg.«
Und obgleich er so erschöpft wirkte, liebte ich meinen Vater in diesem Moment mehr als je zuvor. Und alles wegen diesem
Wir. Wir
helfen dir.
Wir
finden einen Weg. Dad versuchte, jemanden zusammenzuflicken, der noch nicht einmal sein Eigen war.
Auf einmal wurde mir klar, dass ich mich daran festhalten konnte, an dieser menschlichen Qualität, die tausendmal ehrlicher und verlässlicher war als eine Army-Jacke und schwere schwarze Stiefel.
Langsam ging ich aus dem Raum. Mehr brauchte ich nicht zu sehen. Nicht heute Nacht. Ich hatte meine Antwort.
Ich wusste noch immer nicht, was genau zwischen Gretchen und Keith im Badezimmer abgelaufen war. Nur, dass Gretchen hier im Krankenhaus lag und Keith nicht. Hatte er ihr eine stärkere Dosis gegeben als sich selbst? Oder hatte er ihr einfach nur dabei zugesehen, wie sie das Gift nahm, während er selbst sich zurückgelehnt und ein Bier geext hatte?
So oder so kannte ich jetzt das Ende von
Quadrophenia:
Auf dem Roller waren nicht nur eine, sondern zwei Personen. Keith hatte Gretchen vor sich gestellt, vielleicht flüsterte er ihr Dinge zu wie:
Das wird lustig
oder
Ich kann dafür sorgen, dass du dich wahnsinnig gut fühlst
. Im letzten Augenblick jedoch hat er sich dann zur Seite gerollt, während sie hinabstürzte. Keith war der Feigling, der sicher oben auf der Klippe stand, während Gretchen in der Tiefe zerschellte.
Ich entdeckte die beiden Brads in der Schwesternstation, sie lehnten am Tresen und schlürften Cola Light. Der gute Brad sah mich hoffnungsvoll an und zog mich außer Hörweite.
»Viel habe ich nicht gesehen«, sagte ich.
»Das ist nicht weiter schlimm«, sagte der böse Brad.
Weitere Kostenlose Bücher