Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
struppigen Haaren, die niemals glatt liegen wollten, der Stupsnase und dem Grübchen im Kinn bis zu den runden Oberschenkeln und den ewigen Jeans. Stretch. Mit seinem kleinen Kopf und dem kräftigen Torso ähnelte Zipp dem, was er im Grunde war. Einem Masthähnchen. Zipp brach der Schweiß aus. Andreas taxierte seinen Körper bis in die letzte Kleinigkeit. Und verwarf alles. Zipp hatte bei der Frau keine Chance. Zipp seinerseits bereute, dieses Gespräch überhaupt begonnen zu haben. So kam es immer. Er machte einen Anlauf, aber dann ging es nicht weiter. Scheiße, wieso hatte er nicht das Geld für eine Runde? Verstohlen betrachtete er seinen Kumpel. Andreas hatte Stil. Er trug weite Hosen und lose Hemden. Nichts anderes, nichts Schrilles. Mokassins, niemals Turnschuhe. Im Sommer krempelte er die Ärmel hoch und ließ ein paar Knöpfe offen. Aber immer trug er solche Klamotten, helle, leichte. Sie umflatterten ihn, ließen ihn schmaler aussehen, noch langgliedriger. Zipp dagegen preßte genau die gleiche Menge Kilos, nämlich dreiundsiebzig, in enge Jeans und T-Shirts, die wie Strümpfe saßen. Darüber trug er eine Lederjacke. Die war kurz und in den Schultern breit, bescherte ihm aber nicht die athletische Form, die er anstrebte. Eher sah er aufgeblasen aus. Das begriff er nicht, denn er war ja nicht fett. Er war ein wenig O-beinig und hatte einen Ponyhintern, sah aber nicht auffällig aus. Er beneidete Andreas um seinen Stil, konnte ihn aber nicht einfach nachahmen. Die Wirkung würde ausbleiben. Nicht, daß es ihm an Frauen gefehlt hätte. Doch selbst in dieser Hinsicht war Andreas ihm überlegen. Er übersah die Frauen einfach. Abgesehen von der einen. Und noch immer wußte Zipp nicht, wie alt die war. Dreißig? Noch älter? Vierzig oder fünfzig? Zipp hatte eine Tante, die fünfzig war, und bei dem Gedanken sträubte sich alles in ihm. Eine Frau von fünfzig. Mit Kindern und allem. Wie sahen Frauen wohl unten aus, wenn sie einen Haufen Kinder aus sich herausgepreßt hatten? Auf jeden Fall anders als junge Mädchen.
»Hat sie Kinder?« entfuhr es ihm.
»Viele«, Andreas nickte, »vier oder fünf.«
»Scheiße, in so einer Alten muß doch viel zuviel Platz sein?«
Andreas öffnete das Fenster und ließ ein säuerliches kleines Lachen hören. »I have seen things you wouldn’t believe.«
»Will heißen?«
»Sie sind viel, viel tiefer, Zipp.«
Hoch oben über der Stadt, mit Blick auf den Fluß, stand ein stattliches, etwa hundert Jahre altes Haus. Es war ein wenig heruntergekommen, aber die grünen Bretter hielten Wind und Wetter noch immer stand. Hier lebte die Künstlerin Anna Fehn.
An einem Frühsommerabend schlenderte sie über den großen Platz und betrachtete die Leute. Sie hatte einen trainierten Blick. Die wenigsten Menschen sind schön, dachte sie. Die meisten sind eine zufällige Mischung aus den beiden, die an ihrem Entstehen beteiligt waren. Lange Arme und Beine vom Vater, winzige Hände und Füße von der Mutter; fast niemand ergibt ein harmonisches Ganzes. Fast niemand machte Eindruck auf sie, aber sie wußte, daß es nicht um schwer oder leicht ging, um grob oder fein, sondern darum, wie die Menschen sich durch den Raum bewegten. Mit dem Bewußtsein ihrer selbst und mit Stolz als tragender Kraft. Oder in eine Form gepreßt, zu der sie nicht stehen mochten. Und dann entdeckte sie Andreas. Er saß mit einem Freund in einem Straßencafé. Ihr erster Gedanke war, daß er sich langweilte. Das Leben genügte ihm nicht. Etwas Wichtiges fehlte ihm, und er konnte es nicht finden. Nicht besonders originell, das galt für die meisten Menschen. Er aber glotzte nicht vor sich hin, schaute den Mädchen weder hinterher, noch posierte er vor ihnen. Vollkommen ruhig saß er da, die langen Beine unter dem Tisch ausgestreckt. Anna sah die Lederstiefel auf den Pflastersteinen und das Baumwollhemd auf der hellen Haut. Die Haare, die sich sacht im Wind bewegten, die dünnen Finger, die das Glas umschlossen. Fast lag er in dem Stuhl, der nur auf den Hinterbeinen ruhte. Allein diese Art zu sitzen, in vollendetem Gleichgewicht, mit dem Risiko, umzukippen und mit dem Kopf gegen die Steine zu schlagen, und trotzdem völlig entspannt. Gleichgültig. Das beeindruckte sie. Dann schaute sie sich den Kumpel an. Die beiden paßten nicht zueinander. Sie hatten ihre Halben fast geleert, waren aber noch nicht angetrunken. Ansonsten sahen sie aus wie die meisten Jugendlichen. Gehörten keiner definierten Szene an, waren
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