Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
zuviel. Ich sehe fern. Lese Zeitung. Weiß, was auf der Straße los ist oder in Algerien und Ruanda.
Ich schlafe gut, ich träume selten, und ich habe keine Angst vor dem Sterben. Oft wünsche ich mir das sogar. Im roten Sessel zu sterben, ohne es wirklich mitzubekommen. Beim Fenster, Sonnenlicht im Gesicht. Als letztes spüre ich eine schwache Wärme. Wie traurig, wo ich schon gar nicht mehr richtig hier bin!
Kurz gesagt, ich tue meine Pflicht. Was ist eigentlich so schrecklich an der Pflicht, die hält die Gesellschaft schließlich zusammen? Jeden Abend, wenn ich zu Bett gehe, ist es ein Tag weniger. Das ist eine Erleichterung. Ich schäme mich nicht. Morgens, wenn ich aufwache, staune ich darüber, daß ich noch immer hier bin. Aber ich finde es auch richtig und tue, was ich zu tun habe. Halten Sie mich ja nicht für unglücklich oder so etwas, es geht mir gut. Es ging mir gut. Bis das mit Andreas passiert ist.
Ich war sechzehn, als ich aus dem gelben Haus verschwand. Die Regeln waren zu einem Käfig geworden. Ich ließ niemanden herein. Hinter den Gittern konstruierte ich ein Leben, einen Zustand, in dem ich überleben konnte, der aus Ordnung und Übersicht, Disziplin und Kontrolle bestand. Meine Eltern sahen meinen Abschied mit Skepsis und Erleichterung zugleich. Was in ihrem Blick deutlich zu lesen war. Mach uns keine Vorwürfe, wenn etwas schiefgeht. Sie winkten nicht. Jetzt hatten sie endlich ihre Ruhe. Gottvertrauen habe ich von ihnen auch nicht mitbekommen. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, sagte Mutter und kehrte mir den Rücken. Sie gaben mir das, was sie selbst gelernt hatten: die beste Art, das Leben durchzustehen. Die Regeln waren mir übergestülpt worden. Als ich ging, betrachtete ich die Welt durch das Gitter. Alle um mich her waren fahrig und ziellos und ekelhaft impulsiv. Die Menschen lassen sich treiben, und das macht mir angst.
Ich habe eine Freundin, habe ich das schon erwähnt? Runi. Sie besucht mich selten. Meistens besuche ich sie, das ist mir lieber. Wenn ein Gast in meinem Haus ist, komme ich mir vor wie eine Gefangene, ich kann nicht aufstehen und gehen, wenn mir danach ist. Runi redet viel und hat viele Sorgen. Nicht mehr als ich, aber ich spreche nicht gern darüber. Allenfalls jetzt, mit Ihnen. Runi ist eine tolle Frau, ich meine, wie sie aussieht. Modern, ohne zu weit zu gehen. Sie weiß, daß sie gut aussieht, und das ist ihr auch wichtig. Meistens ist sie redselig und lebhaft. Aber sie plappert schrecklich viel über all ihre Probleme, und manchmal ist sie geradezu aufdringlich. Das ermüdet mich. Ab und zu gibt es Dinge, die ich Runi erzählen möchte, aber dann tue ich es doch nicht. Wenn ich zum Beispiel ihre Toilette benutze. Ich betrete dieses Zimmerchen, hebe meinen Rock und pisse. Wische gut ab. Wasche mir die Hände. Das kostet mich nichts. Das kann ich Runi nicht erzählen, sie würde es nicht verstehen. Sie verstehen es ja auch nicht. Natürlich ist sie reizend, aber sie hat keinen Kontakt zu sich selbst, keine Bodenhaftung. Boden unter ihren Füßen. Denkt nie richtig nach. Sollte ihr etwas zustoßen, trifft sie es unvorbereitet. Diese kindische Vorstellung, daß ihr nichts passieren wird, woher hat sie die? Sie ist doch erwachsen. Und eine schlechte Lügnerin. Einmal – ja, ich muß zugeben, daß das gemein war. Ich saß in ihrem Wohnzimmer und aß Kuchen. Mit Creme und grünen Zuckerherzchen. Runi verbreitete sich darüber, wie sorgfältig sie freitags immer putzt und wie arge Rückenschmerzen sie danach jedesmal hat. Ich machte mir so meine Gedanken. Ich roch den Staub im Zimmer, an meinem Geruchssinn ist nichts auszusetzen. Als sie in die Küche ging, um etwas zu holen, schnappte ich mir ein Zuckerherz und ließ es unter das Sofa fallen. Und dann wartete ich. Erst eine Woche, dann wollte ich es perfekt haben und wartete noch eine Woche. Und um das Schicksal wirklich herauszufordern, wartete ich noch eine dritte Woche. Dann besuchte ich sie. Als sie auf die Toilette ging, bückte ich mich und entdeckte das Zuckerherz. Es war nicht mehr grün. Ich habe sie nie mit dem zottigen Zuckerherz konfrontiert, ich bin kein boshafter Mensch. Ich versuche, ihr etwas zu sein; wir sind schließlich Freundinnen. Was ist eine Freundin? Eine, mit der wir uns treffen, ohne allzu großes Unbehagen zu empfinden? Genaugenommen ist sie mir egal. Wenn sie stürbe, wäre ich schockiert, aber zugleich wäre vieles erledigt. Würde ich sie betrauern? Das kann ich mir nicht
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