Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
los, die nun zerbrach, und nahm den Geruch des sauren Weins wahr, der sich sehr schnell ausbreitete. Er wollte nur noch weg, aber sie versperrte ihm den Weg. Ihr schwerer Körper füllte die ganze Türöffnung. Er stieg über ihren Rücken, trat darauf, wäre fast auf sie gefallen. Schwankte, fand das Gleichgewicht wieder. Stürmte aus dem Keller, an der Plane vorbei. Erreichte die Treppe, hörte sich schluchzen und wußte, daß etwas Entsetzliches passiert war. Das, was unter der Plane lag, war zerbrochen. In ihm schrie etwas: deine Schuld, deine Schuld. Die Luke stand offen, in der Küche brannte Licht. Er zog sich hoch, stand auf dem Boden. Sah sich in dem blauen Raum um, ging zur Öffnung, schaute nach unten. Der Kadaver unter der Plane grinste ihn an. Er packte die Luke und ließ sie fallen. Das ist das Ende, dachte er. Wie ein Gewehrschuß knallte die Luke, das ist das Ende. Einfach zerstört, in Stücke geschlagen, nicht wiederzuerkennen. Aber das gelbe Hemd! Dann stürzte er davon.
Sejer mußte an einen toten Baum denken. Die Frau stand noch aufrecht, aber jegliche Kraft war aus ihr gewichen. Für sie spielte es keine Rolle, ob er diese miesen Taschenräuber erwischte. Ihr Kind war tot. Über dreißig Jahre hatte sie ohne dieses Kind gelebt. Wie war es möglich, nach nur vier Monaten dermaßen an einem Baby zu hängen? Bis in den Tod miteinander verbunden, dachte er. Weiter dachte er an das Phänomen Zeit und deren Tendenz zu vergehen. Die Dinge immerhin verblassen zu lassen. Er ließ sie in Ruhe. Und dachte an das, was der Arzt gesagt hatte. Daß der Kleine obduziert werden müsse. Daß der Sturz aus dem Wagen vermutlich nichts mit dem Tod zu tun habe. Daß es sich lediglich um einen besonders grausamen Zufall handelte. Aber warum sollte er der Mutter das erzählen? Deren Überzeugung stand fest. Zwei junge Männer hatten das Allerliebste getötet, das sie gehabt hatte. Nicht, daß sie an die beiden gedacht hätte. Sie dachte an gar nichts, sondern ließ die Zeit träge dahinwandern. Ein seltenes Mal zwinkerte sie, die Augen schlossen sich langsam und öffneten sich mit großer Mühe wieder.
»Wollen Sie sich nicht setzen?«
Sie ließ sich in den Sessel sinken. Ihr heller Mantel sah nicht mehr aus wie ein Kleidungsstück, sondern wie ein großes Stück Leinen, das jemand über ihre Schultern geworfen hatte.
»Beschreiben Sie mir, so gut Sie können, wie die beiden ausgesehen haben.«
»Ich weiß nichts mehr«, erwiderte sie schwerfällig. Ihre Stimme war tonlos. Vielleicht stand sie unter Drogeneinfluß. Irgendein hilfloser Arzt hatte ihren Schmerz nicht mit ansehen können.
»Doch«, widersprach er. »Wenn Sie sich Mühe geben, werden Sie sich an einzelne Brocken erinnern können.«
»Mühe geben?« Bei diesen Worten hob sie den Kopf und musterte ihn ungläubig. Sie hatte kaum noch die Kraft, aufrecht im Sessel zu sitzen. »Warum sollte ich Ihnen helfen?« fragte sie müde.
»Weil wir von zwei Männern reden, die erfahren müssen, was sie da angerichtet haben. Sie werden zwar nicht als am Tod Ihres Sohnes schuldig verurteilt werden, aber es wird ihnen doch zu schaffen machen. Und vielleicht verhindern, daß so etwas noch einmal passiert.«
»Das interessiert mich nicht.« Wieder hob sie den Kopf und sah ihn an. »Was Sie da sagen, glauben Sie doch selber nicht. Und wenn die beiden von jetzt an jede Woche ein Baby umbringen – mich interessiert das nicht.«
Er sann auf etwas, das sie zu wecken vermochte.
»Jetzt nicht«, sagte er. »Aber in einem Jahr vielleicht. Und dann wird es Sie quälen, daß Sie es nicht einmal versucht haben. Wenn Sie daran denken, daß die beiden noch immer so leben, als sei nichts geschehen.«
Sie lachte müde. Sejer erhob sich und trat ans Fenster, wie so oft. Der Regen floß in gleichmäßigem Strom. Zusammen mit dem Gedanken, daß es etwas gab, das sie alle unverändert überdauern würde. Es würde weiterströmen, im Wind wehen, gegen die Felsen schlagen, salzig und hart.
»Sie sind hier«, sagte er und drehte sich um. »Also müssen Sie sich überlegt haben, daß Sie vielleicht helfen können. Oder warum sind Sie gekommen? Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Wir haben bereits viel Zeit verloren.«
Bei diesen Worten sah sie ihn an, wacher jetzt.
»Nein«, stammelte sie. »Ich hatte wohl auf eine Erklärung gehofft. Es gibt doch immer eine Erklärung?«
»Erklärung?« Als ob er eine hätte. Er schüttelte langsam den Kopf. »Sie können mir helfen«,
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