Dunkler Schnee (German Edition)
Mal. Marisa hört weit entfernt die hysterischen, hohl klingenden Hörner eines Zuges und bleibt einen Moment stehen, um zu verschnaufen. Es raschelt im nackten Gesträuch, dann ist mit dem Verstummen des fernen Zuges auch alles andere still.
„Bruno?“ Er ist nirgends zu sehen.
„Bruno? Hier!“ Die junge Frau geht weiter, bückt sich, um einem Ast auszuweichen, und sieht den Hund in etwa hundert Metern Entfernung herumspringen. Schwach dringt sein Gebell an ihr Ohr. Dann sieht sie eine Gestalt. Die Gestalt hebt den Arm und wirft etwas mit Schwung auf den See hinaus. Der Hund springt hinterher.
„Bruno! Nein!“ Sie schreit aus Leibeskräften, doch der Hund hört nicht. „Nein, Bruno! Hier!“ Sie fängt an zu laufen, sieht, wie ihr gefleckter Gefährte aufs Eis hinausrennt, erst rutschend, mit der Flanke einknickend, dann auf der Stelle tretend, bis seine Pfoten im Schnee Halt finden und er beschleunigen kann. Marisa fällt hin, ihre Jacke bleibt an einem Zweig hängen, sie rappelt sich auf, knickt wieder ein, sie schreit …
Die Gestalt am Ufer dreht sich zu ihr um, dann wieder weg, dann steht sie – ist es ein Mann? – bewegungslos und starrt anscheinend wieder in Marisas Richtung. Der muss mich doch sehen!, denkt sie, warum tut er so was?
Bruno ist mittlerweile 20, 30 Meter – viel zu weit! – auf das Eis gelaufen und stoppt immer noch nicht. Marisa schreit wieder. Sie schreit nach dem Hund, ruft dem Unbekannten am Ufer zu, er solle den Hund zurückholen. Bruno stoppt nicht. Sie sieht ihn rutschen, seine Flanke knickt erneut ein, er versucht abermals hochzukommen, doch durch den Schwung rutscht er weiter.
Dann verschwindet er.
5. Ehevertrag
Marisa war einer Einladung ihrer Eltern gefolgt und saß erwartungsfroh am Kaffeetisch. Sie plauderten über die Ereignisse der vergangenen Wochen, allen voran der Kanadaurlaub. Marisa kam sich schon fast schwatzhaft vor, wie sie von Halifax erzählte, von Cape Breton oder der Confederation Bridge mit ihrer beachtlichen Länge von fast 13 Kilometern, über die man nach Prince Edward Island gelangte. Als sie schließlich noch von der Bay of Fundy berichtete, wo sie und Laurens die enorm beeindruckenden Klippenformationen als Folge der weltweit größten Tidenunterschiede hatten besichtigen können und dem attraktiven Dorf Peggy’s Cove mit dem berühmten Leuchtturm, kam sie auf Laurens’ Heiratsantrag zu sprechen. In den Gesichtern ihrer Eltern, die bis dahin aufmerksam und heiter ihren Ausführungen gefolgt waren, sah sie plötzlich eine Mischung aus Freude, Besorgnis und Zweifel.
Claus, ihr Vater, stand auf, verließ das Zimmer und kam mit einigen Bögen sauber bedruckten Papiers zurück. „Hoffentlich verstehst du das nicht falsch“, sagte er und legte die Papiere vor Marisa auf den Couchtisch, bevor er seinen Platz einnahm; seine Augen gingen rasch zu seiner Frau, die ihm die Ahnung eines Nickens signalisierte.
Marisa zog die Augenbrauen hoch, blickte von einem zum anderen, nahm die Papiere und begann zu lesen.
„Ihr wollt nicht im Ernst, dass ich das unterschreibe?“ Ihre Stimme bekam ein leichtes Vibrato. Sie legte die Bögen zurück auf den Tisch. Claus Demmer, gerade 60 geworden, was mit Prunk und Pomp in Gesellschaft einiger Ratsmitglieder als auch Vorständen diverser Firmen gefeiert worden war, stand wieder auf, seufzte und zog sich sein Jackett glatt. Er ging einige Schritte auf und ab, seufzte nochmals vernehmlich und sagte: „Marisa, glaubst du, ich bin Anwalt geworden, damit ich meine Tochter offenen Auges ins Verderben rennen lasse?“
„Du nennst Laurens mein Verderben?“ Marisas Augen wurden groß, und sie stand ebenfalls auf. Reflexartig ballten sich ihre Fäuste.
„Nein, natürlich nicht, so ist das nicht gemeint.“ Claus machte eine hilflose Handbewegung, dann trat er zum Tisch hin, machte eine halbe Drehung, als wüsste er nicht, wohin er sollte, wischte sich wieder über die Jacke und setzte sich schließlich wieder. „Ich möchte, dass du sicher bist, aus Liebe zu heiraten – und geheiratet zu werden!“
„Warum glaubt ihr mir denn nicht, dass Laurens mich liebt?“ Marisas Augen füllten sich mit Tränen.
„Marisa, Schatz“, mischte Gudrun Demmer sich ein. Sie war eine Frau in den Fünfzigern und trug ihr grau meliertes Haar als schwungvollen Stufenschnitt. Wie es ihre Art war, war sie auch zu Hause mit einem adretten Kostüm bekleidet. Marisa hatte oft das Gefühl, ihre Mutter sei immer im Dienst als
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