Dunkler Wahn
zwanzig Minuten dauern, allerhöchstens fünfundzwanzig. Wenn Mehra sich mit der Zeit nicht getäuscht hatte, musste Carla eigentlich längst zu Hause sein. Dass sie nicht ans Telefon ging, war kein gutes Zeichen, ebenso wie ihr überstürztes Verlassen des Krankenhauses.
Zwar konnte Jan verstehen, dass sie es dort nicht mehr ausgehalten hatte und endlich allein sein wollte, aber die selbst gewählte Isolation konnte auch gefährlich werden, zumal sie sich in einer bedenklichen geistigen Verfassung befand.
Er schnappte seine Jacke und fuhr zu ihrer Wohnung. Von unterwegs rief er noch mehrmals bei ihr an, doch Carla hatte weder ihr Handy eingeschaltet, noch nahm sie Anrufe auf dem Festnetzanschluss entgegen.
Als Jan endlich bei ihrem Haus angekommen war, klingelte er Sturm und atmete erleichtert auf, als endlich der Türöffner summte. Er lief die Treppe zu Carlas Wohnung hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend.
Am oberen Treppenabsatz wurde er bereits erwartet. Edwina Frank war Carlas Etagennachbarin, eine dürre Erscheinung um die siebzig mit sauertöpfischer Miene. Wie immer trug sie eine blau geblümte Kittelschürze, die an ihrem Körper schlotterte. Das spärliche Haar hatte sie zu einem skurrilen Gebilde auftoupiert, das an Elsa Lanchesters Frisur in Frankensteins Braut erinnerte, wie Carla einmal festgestellt hatte.
»Ah, der Herr Doktor«, sagte sie. »Ich dachte mir
schon fast, dass Sie es sind, der hier alle Toten wachläutet. Wissen Sie denn nicht, wie hellhörig dieses Haus ist?«
Jan sah zu Carlas geschlossener Wohnungstür und dann wieder zu Frankensteins Braut, der, wie er wusste, nichts entging, was sich in diesem Haus ereignete. »Ist Frau Weller denn nicht da?«
»Nicht mehr «, berichtigte ihn die Frank. »Sie haben sie knapp verpasst.«
»Wie knapp?«
Edwina Frank sah auf ihre Armbanduhr. »Ungefähr zehn Minuten.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen? Wissen Sie, wohin sie wollte?«
»Nein, ich habe nur gesehen, wie sie mit dem Auto weggefahren ist. Aber sagen Sie mal, was ist eigentlich los mit ihr? Da stimmt doch etwas nicht, oder täusche ich mich?«
Die Sensationsgier stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Spätestens wenn Jan gegangen war, würden auch sämtliche anderen Hausbewohner Bescheid wissen, dass mit Carla Weller etwas nicht in Ordnung war.
»Es ist nichts«, log Jan, doch Frankensteins Braut ließ nicht locker.
»Ach, nein? Also, ich hatte da vorhin einen anderen Eindruck. Vor allem, nachdem ich das im Treppenhaus miterlebt habe.«
Jan hatte sich schon zum Gehen gewandt, doch nun sah er sich erstaunt um. »Wie meinen Sie das?«
»Na, ich stand da ganz zufällig im Flur neben meiner Haustür und hörte sie die Treppe hochkommen. Also habe ich durch den Spion geschaut, und da stand sie vor ihrer Wohnungstür, hielt diesen Brief in der Hand und heulte zum Steinerweichen. Ich wollte nach ihr sehen,
aber bis ich die Tür geöffnet hatte, war sie bereits in ihrer Wohnung verschwunden. Ich habe sie drinnen weiter weinen gehört, aber ich wollte dann doch nicht läuten. Kurz darauf kam sie wieder heraus, lief die Treppe hinunter, und dann sah ich ihren roten Wagen davonfahren.«
»Frau Frank, haben Sie mit ihr gesprochen? Hat Sie etwas gesagt?«
Sie verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. »Nein, gesagt hat sie nichts. Und es ist ja auch nicht so, dass ich meine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute stecke. Auch wenn das manche hier immer wieder behaupten. «
Beunruhigt verließ Jan das Haus. Wohin war Carla gefahren?
Noch einmal rief er ihr Handy an. Vergeblich.
63
Jan stand am Fenster und sah von Starks Büro auf den Vorplatz des Polizeireviers hinunter. Der andauernde Regen hatte gewaltige Pfützen auf dem Asphalt gebildet, so dass die beiden Streifenwagen, die dort parkten, wie Boote in einem schwarzen Meer aussahen.
»Glauben Sie, dass sie sich etwas antun will?«, fragte Stark.
Jan wandte sich zu ihm um. »Offen gesagt, weiß ich es nicht. Eigentlich wäre Carla die Letzte, der ich Suizidgedanken zutrauen würde. Aber nach dem, was sie durchmachen musste …« Er sprach nicht zu Ende und machte eine ratlose Geste.
»Es war auf jeden Fall gut, dass Sie es uns gleich gemeldet haben«, sagte Stark und nickte ihm ermutigend zu. »Die Kollegen werden die Augen nach ihr offen halten. «
»Ich mache mir wirklich ernsthafte Sorgen«, sagte Jan. »Ich habe inzwischen jeden ihrer Bekannten angerufen, aber niemand hat von ihr gehört.«
»Gehen wir nicht
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