Dunkler Zwilling
es gemacht. Sie hatte mich fotografiert, als ich auf der Treppe vor dem Schuleingang stand. So ein Foto gab es wohl auch von Maurice. Sie hat aus beiden Bildern eins gemacht. Es sieht so aus, als ob wir beide nebeneinander auf der Treppe stehen und nachdenklich über den Schulhof gucken. (Ich stehe oft kurz vor Ende der Pause da, weil ich aus bekannten Gründen Erster im Klassenraum sein will, wenn es läutet.) Der Wind weht mir die Haare aus dem Gesicht, sodass es aussieht, als seien sie so kurz wie bei ihm. Meine Brille hatte ich noch nicht wieder, sie war noch in Reparatur, und das Monstermodell von Ersatzbrille zog ich nur im Notfall auf. Wir stehen da so nebeneinander, die gleiche Körpergröße, die gleiche Haltung, den gleichen Ausdruck im Gesicht. Wie Zwillinge, hat Jonas auf einmal gesagt. Er schickte mir das Foto auf mein Handy. Ich habe es heute noch und sehe es mir oft an. Als ich wieder zu Hause war, konnte ich mich nicht mehr davon losreißen.
In der Nacht träumte ich das erste Mal von Maurice. Ich sah ihn mit diesem nachdenklichen Gesicht an der S-Bahn-Haltestelle stehen. Er unterhielt sich mit mir. Wir wollten in den Zug einsteigen. Dann sehe ich plötzlich, dass da gar kein Zug ist, sondern es nach dem Bahnsteig ganz tief hinunter geht. Maurice merkt es nicht, weil er mich beim Reden ansieht. Er macht einen Schritt. Ich packe ihn am Ärmel. Wir fallen beide. Wir fallen und fallen. Wir sind Fallschirmspringer und fliegen auf gleicher Höhe. Unsere Haare flattern. Maurice lacht und ruft mir etwas zu. Der Wind reißt ihm die Worte aus dem Mund und rauscht in meinen Ohren. Ich verstehe nichts und weiß nur plötzlich, dass ich die Reißleine ziehen muss. Mein Schirm öffnet sich, ich werde nach oben gezogen und Maurice verschwindet aus meinem Blickfeld. Sofort habe ich Angst, dass ihm was passiert ist. Hat sich sein Schirm nicht geöffnet oder liebt er das Risiko und wartet bis zum letzten Augenblick? -
Bang, chicka, bang, bang . Max’ Handy meldet das Eintreffen einer SMS . Er geht hinüber zum Schreibtisch und findet sein Handy unter einer leeren Fertigpizza-Packung. Als er die Nachricht liest, breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Einen kurzen Moment zögert er. Es wird vermutlich den traurigen Rest seiner Telefonkarte kosten, sie jetzt anzurufen. Egal.
Sie meldet sich sofort. »Hallo Max, was für ein Segen, endlich wieder Netz zu haben. Auf diesem Kaff bei meinem Vater brach es ständig zusammen, überhaupt ist da alles ziemlich zusammengebrochen.«
»Also war es nicht gut?«
»Voll der Horrortrip! Da gibt es nichts außer alten Steinen, Ölbäumen und Mauleseln.«
»Sonja und Andreas träumen von so einem Urlaubsparadies.«
»Wer sind Sonja und Andreas?«
»Die Leute hier bei mir im Haus, die bis vor Kurzem noch behauptet haben, meine Eltern zu sein.«
»Habt ihr Zoff zu Hause?«
»Mehr als das. Ich erzähl’s dir, wenn du wieder da bist. Wo bist du jetzt?«
»Ich bin zu meiner Oma nach Monza geflohen. Endlich wieder Zivilisation! Ich werde auf jeden Fall übers Wochenende noch bei ihr bleiben. So viel Zeit brauche ich, um mich zu erholen und vor allem, um sie zu überzeugen, dass sie mich alleine nach Deutschland reisen lässt. Sie will das jetzt erst mal mit Giusi, der Schwester von meiner Mama, besprechen und dann vielleicht auch noch mit ihrer Nachbarin. So ist das in Italien. Außerdem will sie die Erlaubnis meiner Alten einholen, dass ich die letzte Ferienwoche allein im Haus bleiben darf.«
»Der alte Köhler ist ja da und wurschtelt bei euch im Garten herum, der kann auf dich aufpassen – und ich natürlich auch.«
»Danke. Den Köhler werde ich als Argument verwenden. Dich lass ich lieber aus dem Spiel. Geht’s dir denn einigermaßen?«
»Geht so. Wir haben viel zu bequatschen, wenn du wieder da bist.«
»Ja, ich freu mich drauf. Melde mich. Ciao!«
Max legte das Handy vorsichtig beiseite, als sei es ein kleiner, zerbrechlicher Vogel. Er betrachtete es lächelnd und hatte dabei ein anderes Bild vor Augen: Chiaras rundliches Gesicht mit den roten Wangen und den schwarzen Augen, die ihn unternehmungslustig anblitzten. Ihre dunklen Locken tanzten um ihre Stirn und sie pustete sich vorwitzige Strähnen aus dem Gesicht. Er spürte, wie sich die bleierne Stimmung, die ihn seit Jahresanfang belastete, ein wenig auflöste. Es war gut, bald alles mit Chiara besprechen zu können. Sie würde wissen, wie es von nun an weitergehen soll. Die meisten Ereignisse der
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