Dunkler Zwilling
letzten Wochen hatte sie hautnah miterlebt. Max erinnerte sich. Nach dem Schock mit dem Foto hatte er heimlich begonnen, etwas über Maurice herauszufinden. Schnell hatte er bemerkt, dass Chiara ein wichtiger Schlüssel in seinen Nachforschungen war. Auch seine Großmutter, die in Modertal geboren und aufgewachsen war, wusste einiges über die von Bentheims.
Die alte Villa hatte jahrelang leer gestanden, bis Gero von Bentheim sie Ende der achtziger Jahre kaufte und auf dem modernsten Stand renovieren ließ. Er zog dort mit seiner Frau, Friederike von Bentheim, ein. »Eine bildschöne Frau mit blonden Locken und einem Körper wie eine Elfe«, hatte Oma erzählt. »Sie war eine Pferdenärrin, hat mitgeholfen, die alte Reitschule auf dem Erlenhof wieder in Betrieb zu nehmen. Ihr Mann hat die Reithalle errichtet. Anfangs glaubte man, die seien sich selbst genug. Die Frau hat ihre Pferde, er hat seine Firma. Die wollen keine Kinder. Ende der Neunziger kam dann Maurice. Die von Bentheims lebten sehr zurückgezogen. Da bekam man nicht viel mit. Viele Leute mochten sie deshalb nicht. Es wurde schlecht über sie geredet. Ich für meinen Teil habe nie Probleme mit ihnen gehabt.«
»Erzähl mir mehr von Maurice«, hatte Max gebeten.
»Warum willst du etwas über ihn wissen?«
»Er ging in meine Klasse und seine Schwester ist da jetzt noch.«
»Die Schwester geht in deine Klasse? Wie heißt sie?«
»Chiara«, hatte Max versucht, so beiläufig wie möglich zu sagen.
Die Großmutter hatte nachdenklich die Augen zusammengekniffen. »Das ist italienisch. Stimmt, sie ist seine Stiefschwester. Die zweite Frau von Gero von Bentheim hat sie mit in die Ehe gebracht. Sie ist mit Maurice nicht mehr verwandt als du oder ich.«
Bei dem Wort »du« war Max unwillkürlich zusammengezuckt. So alt wie ich, dachte er. Am Ende ist Maurice am gleichen Tag geboren! »Was ist mit der ersten Frau, also mit Maurice’ Mutter geschehen?«, hatte Max nachgehakt.
Die Oma hatte geseufzt. »Man erfuhr ja so wenig, deshalb entstanden viele böse Gerüchte. Es hieß, sie würde sich nicht um Maurice kümmern. Sie überließ alles irgendwelchen Au-pairs oder den Köhlers. Frau Köhler arbeitete dort als Köchin und Haushälterin. Oft hat sie mir erzählt, sie hätte auf den Kleinen aufpassen müssen, weil »die Madame« – so sagte sie immer –, im Bett geblieben war. Später wurde sie kleinlaut. Da stellte sich nämlich heraus, dass Frau von Bentheim offensichtlich sehr krank war. Irgendwann ist sie dann auch in eine Klinik gekommen. Und dann war plötzlich die Italienerin als neue Frau von Bentheim da. Endlich gab es eine Mutter für Maurice und gleich eine Schwester dazu. Die Leute sagten, dass der Kleine richtiggehend aufgeblüht ist. Ein Jahr später wurde dann noch ein Mädchen geboren. Wie sie heißt, weiß ich im Moment gar nicht. Ich für meinen Teil habe mich jedenfalls gefreut, dass es in diesem Haus wieder bessere Zeiten gab und der kleine Maurice eine funktionierende Familie um sich hatte. Ich habe zwar nicht so viel Einblick, aber wenn man die neue Frau von Bentheim mit den Kindern sieht, merkt man, dass es ihnen gut geht. Vielleicht hat mich das Schicksal dieses kleinen Jungen auch so berührt, weil er mich an dich erinnerte.«
»Er erinnerte dich an mich, wieso?«, hatte Max alarmiert gefragt.
Die Oma hatte gezögert. »Nun, er war ja schließlich so alt wie du und auch ein kleiner, blonder Junge.«
»Mehr Ähnlichkeit hast du nicht gesehen?«
»Nein, natürlich nicht. Er war auch größer und kräftiger als du. Warum fragst du so komisch?«
»Die in meiner Klasse meinen, ich sehe ihm ähnlich.«
»Ihr habt euch als Kinder ein bisschen ähnlich gesehen. Später aber nicht mehr. Er war ein ganz anderer Typ als du. Haben deine Klassenkameraden dir auch erzählt, was mit ihm geschehen ist?«
Max hatte genickt. »Sie sagen, es wäre nicht klar, ob es Selbstmord oder Mord war.«
Die Oma hatte den Kopf geschüttelt. »Da hast du es wieder! Hier ist es schlimmer als auf dem Dorf! Ständig müssen sich die Leute das Maul zerreißen.«
»Aber manchmal ist an Gerüchten auch was Wahres dran«, hatte Max entgegnet. »Vielleicht wissen manche mehr und rücken nur nicht offen damit heraus!«
Die Oma hatte wieder heftig den Kopf geschüttelt. »Alles nur Geschichten! Von Brandstiftung, Mord und Totschlag. So was lieben die Leute!«
»Brandstiftung?«
Max hatte am Gesichtsausdruck seiner Oma gesehen, dass sie nicht gerne über diese
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