Dunkler Zwilling
Ereignisse redete. Aber da er sie so aufmerksam anschaute, wollte sie ihn nicht enttäuschen. Zögerlich hatte sie begonnen: »Als das Haus einer lieben Freundin letztes Jahr abgebrannt ist – halt, Moment, das war ja schon vorletztes Jahr. Juli 2011! Genau! Da haben die Leute gemeint, es sei Brandstiftung gewesen. Jemand habe sie umbringen wollen. So ein Blödsinn! Es war ein altes Haus! Sie hat seit Jahrzehnten nichts mehr dran gemacht. Die alten Leitungen, der Gasherd von annodazumal. Selbst ich hätte den längst rausgeschmissen. Wie oft hatte ich ihr das gesagt.«
»Ist das die Freundin, mit der du mal auf einer Demo warst?«, hatte sich Max erkundigt.
»Brigitte Wiesner. Vielleicht erinnerst du dich sogar an sie. Du warst als kleiner Bub einmal mit dabei! Auf jeden Fall gab es keinen, der einen Grund gehabt hätte, sie umzubringen. Sie war eine herzensgute Seele, sie hat niemandem was zuleide getan! Und jetzt hören wir auf mit diesen Mördergeschichten. Sonst träumen wir heute Nacht noch schlecht!«
So war sie, die Oma. Sie wollte alles positiv sehen. Nur keinen Ärger! Friede, Freude, Eierkuchen! Max schaute zum Fenster hinaus. Draußen war alles grau in grau. Regentropfen krochen die Scheiben hinab. Wo lag eigentlich Monza? Er zog den Schulatlas aus dem Regal und blätterte ungeduldig darin herum. Wie einfach wäre es gewesen, das zu googeln. Wieder wuchs in ihm der Groll gegen Eltern, die nicht in der Lage waren, einem die Grundversorgung zu sichern. Er wunderte sich, wie schnell er fand, was er suchte. Ein kleiner roter Punkt in Norditalien. Ein Städtchen dicht neben Mailand. War das ein Vorort so ähnlich wie Modertal? Gratuliere, Chiara, das ist ja nicht gerade das Kontrastprogramm! Aber alles war wohl besser als dieses Bergdorf in Sizilien.
Max verschanzte sich wieder in seinem Bett. Schorsch, der erwartungsvoll aufgesprungen war, ließ sich mit enttäuschtem Seufzen vor dem Bett nieder. »Wir warten noch, bis der Regen aufhört«, erklärte Max. Er griff sich den Stift und las noch einmal seine letzten Sätze. Dann schrieb er weiter.
Von da an träumte ich immer häufiger von Maurice. Ich weiß gar nicht mehr, ob es Absicht war oder sich irgendwie von selbst ergab, aber ich fing an, mich immer mehr so zu stylen wie er. Das nötige Kleingeld verdiente ich mir mit mehreren Nebenjobs. Ich ging sogar mit dem Handyfoto zum Friseur und ließ mir einen Haarschnitt à la Maurice verpassen. Meine Eltern konnte ich überzeugen, dass Kontaktlinsen praktischer sind als eine Brille und sie haben draufbezahlt. Die in meiner Klasse waren völlig weg. Vor allem Annalena. Wo ich auftauchte, erschien sie auch. Das konnte kein Zufall mehr sein!
Oma und meine Eltern staunten nur noch und dachten, ich treibe die ganze Schau wegen Annalena. Ich hatte inzwischen einen Terminplan wie ein Manager. Wenn ich nicht in der Schule war oder bei einem meiner Jobs, joggte ich durch die Modertaler-Felder bis zum Hutewald. Das war weit genug weg, damit mir niemand begegnete, denn dort machte ich Krafttraining an Baumstämmen, spurtete die Hänge rauf und runter und schleppte Steine und Hölzer. Schorsch lief regelmäßig mit, schleppte Stöckchen und verlor deutlich an Gewicht, was dem verfressenen Kerl sichtlich guttat. Jeden Abend vor dem Bett steigerte ich die Zahl meiner Liegestütze und war bald bei hundert angekommen. Tolle Leistung, wenn ich an meine ersten Bauchplatscher denke. Schon nach ein paar Wochen hatte ich ein Sixpack, wie man es auf manchen Fotos bei Maurice bewundern konnte. Er soll regelmäßig ins Studio gegangen sein. Dafür fehlte mir das Geld. Aber in seinem Taekwondo-Verein meldete ich mich noch in den Herbstferien an und trainierte regelmäßig mit. Schon bald hatte ich das Gefühl, jeden Angreifer ohne Probleme aufs Kreuz legen zu können. Doch das war gar nicht mehr nötig. Denn alle hatten plötzlich Respekt vor mir – wie früher vor Maurice! Annalena schmachtete mich an und ich traute mich sogar, mit ihr wild auf Jonas’ Geburtstagsparty herumzuknutschen. Da war keiner, der es wagte, sich deswegen mit mir anzulegen. Nur Jonas’ Bruder Tobias warf mir Blicke zu, als würde er mich gerne neben den Würstchen auf dem Grill brutzeln sehen. Ich hab ihn mit Winner-Miene angegrinst.
Eines Tages, es muss so Ende Oktober gewesen sein, beobachtete ich nach der Schule auf dem Pausenhof eine Gruppe kleiner Jungs beim Fußballtraining. Tobias stand mit der Trillerpfeife im Mund daneben und machte einen auf
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