Dunkles Geheimnis
„Kommt noch“ vollkommen ernst und das „Fürs Erste“ wortwörtlich meinte.
„Ich möchte einfach für alle Eventualitäten gerüstet sein.“
„Vor sechs Wochen sah es bei Tante Hedi noch ganz okay aus. Und die eine oder andere Bettdecke wird sie ja wohl auch besessen haben.“
„Das werden wir gleich sehen. In einer Dreiviertelstunde sind wir da.“
Jasper streckte neben meinem Kopf die Nase zum Seitenfenster hinaus, legte sein Knautschgesicht in noch mehr Falten und sah aus, als sei ihm schlecht. Seine Ohren versuchten im Wind zu flattern, aber sie sind so klein, dass sie sich nur nach hinten legten wie frisch gegelt. Mir war auch ein bisschen übel. Drei Wochen mit Papa in Großtante Hedis Eingeborenen-Bude. Was war da schon zu erwarten außer Muff, Staub, gruseligen Tapeten und LANGEWEILE hoch fünf.
Ich sollte mich täuschen. Sehr.
Tante Hedis Haus ist reetgedeckt und liegt in einem sympathisch unordentlichen Garten am nördlichen Ende von List, kurz bevor die Heide- und Dünenlandschaft beginnt. Es gab nur eine kleine undichte Stelle im Dach, wie sich gleich am zweiten Tag herausstellte, ansonsten war Papas Erbstück eine wahre Fundgrube.
Martins Tante war Hobbyornithologin gewesen, ungefähr 1,80 Meter groß, und sie hatte einen ausgeprägten Sinn für schrille Deko besessen. Ihr Wohnzimmer war voller ausgestopfter Vögel, die Wände und Regale bevölkerten, oder besser gesagt „bevögelten“ und dafür sorgten, dass man sich an jedem Platz des Zimmers aus unheimlichen wimpernlosen Vogelaugen beobachtet fühlte. Ich kam mir vor, als sei ich nicht allein im Raum, selbst wenn Martin gerade im Garten zugange war.
Auf den Fensterbänken tummelten sich historische Lockenten nebst Vogeleiern in allen Farbschattierungen und Musterungen. In Tante Hedis Kleiderschränken hingen abgedrehte Klamotten in Überlänge und auf dem Wohnzimmertisch und seinem wackeligen Pendant im Garten standen schwere viereckige Aschenbecher aus Glas, bis zum Rand voll mit Kippen, die problemlos einen halben Kindergarten hätten vergiften können.
Nur der Vollständigkeit halber: Tante Hedi ist keineswegs an Lungen- oder Kehlkopfkrebs gestorben. Sie hat sich das Genick gebrochen bei dem Versuch, im zarten Alter von 78 Jahren auf einen Baum in ihrem Garten zu klettern, um drei Vogeljunge vor räuberischen Elstern zu retten. Ein kleiner Vogel hat überlebt, einen hat sich die Elster geholt, wie eine vom Gekreische alarmierte Nachbarin uns erzählte. Und der dritte ruht nun zusammen mit Tante Hedi auf dem Lister Friedhof.
Lediglich die Tapetensituation in Tante Hedis Haus hatte ich korrekt in Erinnerung. Martins und meine Lieblingstapete hing im Klo: rosagelber Blümchendruck auf dunkel olivfarbenem Grund. Und an der Wand eine Art Zeitungsständer, der vom Kreuzworträtselheft bis zu Mare , Geo Wissen und Die Vogelwelt alles beherbergte, was man an diesem Ort zur Ablenkung so braucht.
Ich schlief oben in Tante Hedis Gästezimmer, mit einem goldgerahmten röhrenden Hirsch über meinem Bett und zwei Plakaten des Deutschen Instituts für Vogelforschung, die mich in Multicolor über aktuell bedrohte Arten sowie die Verbreitungsgebiete der Teichralle und der Pfuhlschnepfe in Norddeutschland und Skandinavien aufklärten. Vom Fenster aus hatte ich einen guten Blick auf die krüppelige Kiefer, die Tante Hedi zum Verhängnis geworden war. Eine leuchtend rote birnenförmige Gummiboje baumelte an einem der dicken unteren Äste. Genau in der richtigen Höhe, um mir und meinem Florett als Sparringspartner zu dienen. Was wohl Tante Hedi damit gemacht hatte. Geboxt?
Ende der Leseprobe. Tote essen kein Fastfood
ISBN 978-3-440-13714-7 / 8,99 €
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