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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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ein intensiver Briefwechsel entwickelt hatte.
    Warlam Schalamow hatte den GULag überlebt. Körperlich und seelisch aber blieb er für immer vom Gesehenen und Erlebten gezeichnet. Eine Rückkehr ins Leben, eine Rückkehr zur Literatur konnte kein Anknüpfen an Vorheriges, kein einfaches »Weiterleben« oder »Weiterschreiben« bedeuten. Im Lager seien die Maßstäbe verschoben, bilanzierte Schalamow 1961 in »Was ich im Lager gesehen und erkannt habe«. Er habe »die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation« erkannt. Und er habe erkannt, daß der Mensch unter Bedingungen extremer Kälte, harter Arbeit, Hunger und Schlägen sich in drei Wochen in ein Tier verwandle. Es sei sehr schwer, nahezu unmöglich, fügte er hinzu, aus diesem Zustand in den Zustand der Freiheit hinüberzuwechseln, ohne daß dem Menschen eine lange Ablösungsphase zugestanden werde.
    Schalamow war in seinen Urteilen wie in seinem Verhalten rigoros und kompromißlos. Er schonte weder sich noch die Mitmenschen, selbst diejenigen nicht, die ihm am nächsten standen. Er wurde unduldsam gegenüber einstigen Mitstreitern wie Alexander Solschenizyn oder Nadeschda Mandelstam, denen er sich am meisten verbunden gefühlt hatte und deren literarische Auseinandersetzung mit den Gewaltexzessen in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts er am meisten schätzte.
    Insbesondere die Beziehungen zu Frauen gestalteten sich kompliziert. Die Ehe mit Galina Guds zerbrach. Er heiratete 1956 ein zweites Mal. Doch auch die Ehe mit der Schriftstellerin Olga Nekljudowa wurde zehn Jahre später geschieden. Das Lager sei die Ursache dafür, hatte er einmal lakonisch konstatiert, daß Frauen in seinem Leben keine große Rolle spielten. Die jahrelange Zwangsnähe im Lageralltag hat Schalamows Akzeptanz fester sozialer Bindungen im Alltag, insbesondere von Familie und Partnerschaft offenbar stark beeinträchtigt. Anfang der siebziger Jahre erinnert er in »Wischera« an die Wochen seiner ersten Einzelhaft im Moskauer Butyrka-Gefängnis (1929) und bekräftigte, die Einsamkeit sei »der optimale Zustand des Menschen«: »Die ideale Ziffer ist die eins. Dem einzelnen hilft Gott, die Idee, der Glaube.« Ehe und Familie, die eigentlich erstrebenswerteste Form des Zusammenlebens zweier Liebender, deutete er in einem Brief an die späte Geliebte und langjährige Vertraute Irina Sirotinskaja sogar als Opferung der Persönlichkeit, als Auslöschung des eigenen Lebens in fremden Interessen. Das Gefühl, daß der einzelne immer, in jeglicher Form des Zusammenlebens gefährdet sei, hatte Warlam Schalamow in seinem Leben nicht mehr überwinden können.
    Aus den Erinnerungen derer, die Schalamow kannten, entsteht das Bild eines kraftvollen, zielstrebigen, aber auch sehr schwierigen Menschen voller Widersprüche. Erschwert wurde seine Lebenssituation durch zunehmende gesundheitliche Probleme. Bereits in der Kindheit hatte er Gleichgewichtsprobleme, die jedoch seinerzeit nicht als Ménièresche Krankheit erkannt wurden. Nach der langen Haftzeit in der Kolyma, der Kälte und den Schlägen hatten sich die Symptome (Drehschwindel, einseitiger Hörverlust, Ohrensausen) verschlimmert. Mehrfach war er auf der Straße umgefallen und in eine Ausnüchterungszelle gebracht worden, weil man ihn für einen Betrunkenen hielt (um dem vorzubeugen, trug er später immer eine entsprechende ärztliche Bescheinigung bei sich). In den 60 er Jahren nahm die Schwerhörigkeit dramatisch zu, bis er nicht mehr ans Telefon gehen konnte. Jedes Gespräch kostete zunehmend Kraft. Das schränkte nicht bloß die Kommunikation erheblich ein, sondern wirkte sich, wie aus Erinnerungen von Freunden und Bekannten hervorgeht, auf sein Wesen aus. Er war schon immer unduldsam, nun aber wurden die Stimmungsschwankungen größer und er zog sich immer mehr in sich zurück. Das Mißtrauen wuchs, er wurde einsamer. Nur wenige Freunde kamen noch an ihn heran. Es fiel ihm immer schwerer, den Alltag alleine zu bewältigen und zu arbeiten. Schließlich wurde Schalamow 1979 mit Hilfe des Litfond, der Sozialorganisation des sowjetischen Schriftstellerverbandes, in ein Altersheim eingewiesen. Wenige Menschen kümmerten sich um ihn. Seine Verwirrung nahm zu. Einer der letzten Besucher vermerkt später, Schalamow habe Züge eines »ewigen KZ-Häftlings« bekommen. Am 17. Januar 1982 starb Warlam Schalamow in einer Moskauer Nervenheilanstalt, in die er wenige Tage zuvor überführt worden war.
    Überlebende

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