Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Freiheitskampfes, der nicht in Wologda gewesen wäre. Der Geist des Widerstandes, vermerkte Schalamow nicht ohne Stolz in seinen Kindheitserinnerungen (»Das vierte Wologda«, 1968–71), habe der Stadt ihr unverwechselbares Gepräge gegeben. Das besondere moralische und kulturelle Klima in Wologda habe dazu geführt, daß die Anforderungen an das persönliche Leben und Verhalten hier höher gewesen seien als in jeder anderen russischen Stadt. Schalamow legte Wert darauf, daß sein Vater, ein orthodoxer Geistlicher, ebenfalls Anhänger liberaler Positionen war. Nachdem Tichon Schalamow zwölf Jahre als orthodoxer Missionar in Amerika auf den Aleuten (Alaska) gewirkt hatte, kehrte er mit seiner Familie 1905 ins russische Wologda zurück und übernahm dort eine Priesterstelle. Er pflegte Umgang mit politisch Verbannten und begrüßte die Februarrevolution von 1917. Vielleicht war es dieser Geist, der den künftigen Schriftsteller, nachdem er die Schule beendet hatte, aus Wologda nach Moskau aufbrechen und Jura studieren ließ. Zwar hätte es der Vater lieber gesehen, wenn er Geistlicher oder Arzt geworden wäre, aber der Sohn ging seinen eigenen Weg.
Das Verhältnis zum Vater war insgesamt gespannt. In den Erinnerungen zeichnet Schalamow das Bild eines dominanten Vaters, der von seinen Kindern erwartete, daß sie den von ihm vorgegebenen Lebensregeln folgten. Für den Vater habe es nur ein Erziehungsprinzip gegeben, das Prinzip des »ersten Anstoßes durch Gott, durch den Vater«, dementsprechend habe er das Leben jedes seiner Kinder von Geburt an durchprogrammiert und keine Niederlagen geduldet. Als das mit Abstand jüngste von fünf Geschwistern, heißt es in »Das vierte Wologda«, sei er in der Familie einem fast automatisch funktionierenden Mechanismus von Begrenzungen, Verboten und Regeln unterworfen gewesen. Seine Opposition, sein Widerstand, erinnert sich Schalamow, gingen bis in die früheste Kindheit zurück.
Die frühe Neigung zum Lesen, insbesondere von Gedichten, wurde in der Familie nicht verstanden. Mit Ausnahme vielleicht Nadeshda Schalamowas, der Mutter, die Lehrerin war, Gedichte liebte, Verse von Puschkin auswendig konnte, ihre Neigungen jedoch nicht auszuleben vermochte, da sie vom schweren Alltag einer siebenköpfigen Familie aufgezehrt wurde. Der Vater indes akzeptierte nur eine Literatur, der er einen pragmatischen Effekt fürs Leben abgewinnen konnte. Das Wologda seiner Jugend, beklagte Warlam später, konnte nur Nikolaj Nekrassow (1821–1876) anbieten, einen Dichter, der die Traditionen der russischen Volksdichtung und die Ideale der revolutionären Demokraten miteinander zu verbinden suchte. Warlam schrieb schon als Schüler eigene Gedichte, las und stritt über Autoren, die der Vater radikal ablehnte, ob Klassiker wie Alexander Puschkin und Michail Lermontow, Symbolisten wie Dmitri Mereschkowski und Alexander Block oder auch Vertreter der Avantgarde wie Boris Pasternak und Welimir Chlebnikow.
Zum Schluß der Kindheitserinnerungen faßt Schalamow rückblickend zusammen, daß er sich als Vierzehnjähriger vorgenommen hatte, stets genau das Gegenteil von dem zu tun, was der Vater für ihn geplant hatte: Der Vater wolle, daß er sich gesellschaftlich engagiere, er werde das nicht tun und wenn, dann in einer anderen Form. Der Vater wolle, daß er bloß nützliche Bekanntschaften pflege, er werde das nicht tun. Der Vater hasse Gedichte, er werde sie lieben. Der Vater liebe die Jagd, er selber jedoch werde kein Gewehr in die Hand nehmen, keinen einzigen Schuß abgeben. Schärfer hätte die Opposition zum Erziehungsprogramm des Vaters kaum ausfallen können. Der Sohn hatte sich innerlich längst aus der vom Vater vorgegebenen Sicht auf die Welt gelöst und ging 1924 nach Moskau.
Die geistige Atmosphäre von Wologda, die jugendliche Begeisterung für Sozialutopien und speziell für die russischen Sozialrevolutionäre, selbst die Geradlinigkeit des Vaters hatten jedoch Spuren hinterlassen. Nicht zufällig begann er Jura, genauer gesagt »sowjetisches Recht« zu studieren. Und nicht zufällig führte ihn sein Weg schließlich in die Reihen der politischen Opposition, als deren aktiver Teilnehmer er sich zwischen 1927 und 1929 verstand. Die zahlreichen jungen Leute, die sich in der Universität und in den Hochschulen trafen und die Emphase der damaligen Aufbruchszeit teilten, waren angetreten, wie er später schrieb, »den Himmel zu erstürmen«. Sie lebten in dem Gefühl, die Geschichte mit ihren
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