Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
eigenen Händen zu machen. Später wird Schalamow bilanzieren: »Ich habe an einer großen verlorenen Schlacht für eine wirkliche Erneuerung des Lebens teilgenommen.«
Doch habe er nicht allein für die Veränderung der Wirklichkeit gestritten. In seinen Erinnerungen schreibt er, sein Leben sei in die zwei klassischen Bereiche geteilt gewesen: Gedichte und Wirklichkeit. Er knüpfte Kontakte zu literarischen Kreisen, vor allem um linke Künstler wie Ossip Brik, Wladimir Majakowskij und Sergej Tretjakow, beteiligte sich an der Arbeit literarischer Zirkel, ging zu Disputen und Lesungen. Tretjakow, bekräftigte er retrospektiv, sei ein Meister der Journalistik gewesen. Ein Gespür für Dichtung jedoch, das dem jungen Schalamow ebenfalls wichtig war, habe er bei den Vertretern der »Linken Front der Künste« (LEF) um Majakowskij und Tretjakow vergebens gesucht. Er habe damals nicht bloß Gedichte geschrieben, sondern habe verstehen wollen, wie man Gedichte schreibt. Es habe sich aber herausgestellt, daß bloßes poetisches Handwerk, das Schmieden von Versen im Dienst einer bestimmten Sache alleine nicht ausreiche, um echte Gedichte zu schreiben: »Dichtung ist Schicksal und kein Handwerk.«
Am 19. Februar 1929 erfolgte der Einschnitt, der sein Leben für immer veränderte: Warlam Schalamow wurde in einer illegalen Universitätsdruckerei wegen der Verbreitung von »Lenins Testament«, jenem berühmten Brief vom Dezember 1922 an den Parteitag der KPdSU, verhaftet. Vorgeworfen wurde ihm »konterrevolutionäre Agitation und Organisation« (nach dem berüchtigten Paragraphen 58, Punkte 10 bzw 11). Die folgenden anderthalb Monate Einzelhaft bezeichnete Schalamow rückblickend als wichtige Lehrzeit, schließlich sei die russische Intelligenzija ohne Gefängniserfahrung — »keine richtige Intelligenzija«. Das Urteil aber schockierte — drei Jahre Haft im Konzentrationslager als »sozial gefährliches Element« mit anschließender fünfjähriger Verbannung im Norden. Die Einstufung als »sozial gefährliches Element« bedeutete nicht nur eine Gleichsetzung mit Kriminellen, sondern hieß auch, ein Leben lang das Kainsmal eines Ausgeschlossenen zu tragen. Der Lagerhaft im Nordural ist der unvollendet gebliebene Dokumentarbericht »Wischera. Ein Antiroman« (1970) gewidmet. Die Jahre Lagerhaft hätten ihm gezeigt, heißt es dort, daß er mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehe und sich nicht vor dem Leben zu fürchten brauchte. Nach der Entlassung aus dem Lager 1931 arbeitete Schalamow zunächst auf einer Großbaustelle im Ural, konnte aber bereits ein Jahr später nach Moskau zurückkehren.
Sein vorrangiges Interesse galt jetzt der Literatur bzw. der Journalistik. Er publizierte erste Skizzen, Reportagen und Erzählungen. Im Jahre 1934 heiratete er Galina Guds, wurde im Jahr darauf Vater einer Tochter. Doch die scheinbare Normalität eines Alltagslebens trügte.
Im Januar 1937 erfolgte die zweite Verhaftung. Die Anklage inkriminierte ihm diesmal »konterrevolutionäre trotzkistische Tätigkeit« und das Urteil lautete fünf Jahre »Arbeitsbesserungslager« (der Begriff Konzentrationslager war zu diesem Zeitpunkt aus der offiziellen sowjetischen Terminologie bereits getilgt). Mit anderen Leidensgefährten wurde Schalamow zuerst wochenlang in Viehwaggons ins Ungewisse transportiert. Nach einer Zwischenstation in Wladiwostok brachte man die Gefangenen dann mit dem Schiff in die Bucht Nagaewo, die damals einzige Verbindung in die Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluß im Nordosten Sibiriens. Im allgemeinen Sprachgebrauch wurde die Kolyma einer Insel gleichgesetzt und dem übrigen Territorium der Sowjetunion als dem »Festland« gegenübergestellt. Die Realität des Lageralltags überstieg alles, was Schalamow bisher an Gefängnis- bzw. Lagererfahrung gemacht hatte und was er für vorstellbar gehalten hatte.
Allein schon durch die geographischen Bedingungen war der Mensch hier völlig von der Welt abgeschnitten. Zudem machten die herrschenden extremen klimatischen Bedingungen, vor allem die langen und strengen Winter mit Temperaturen von bis zu minus 60°C und darunter, eine Flucht nahezu unmöglich. Überlebende berichten in ihren Erinnerungen, daß bei der Planung mancher Lagerpunkte daher auf die sonst übliche Abgrenzung der Lagerzone vom Umland durch einen Stacheldrahtzaun verzichtet wurde. Die großen Vorkommen an Gold, Uran und anderen Bodenschätzen machten die nahezu unbewohnbare Kolyma-Region zu einem Zentrum
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