Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
moosbedeckte Häuschen. Das war die Hütte der Bergbauschürfung; dort lebte schon jahrelang niemand mehr. Wir sollten hier wohnen und eine Schneise schlagen — Äxte und Sägen brachten wir mit.
Zum ersten Mal hatten wir unsere Lebensmittelration in die Hand bekommen. Ich hatte einen kostbaren Beutel mit Grütze, Zucker, Fisch und Fett. Der Beutel war an mehreren Stellen mit Bindfadenstücken abgebunden, wie man Würstchen abbindet. Kristallzucker und zwei Sorten Grütze, Gerste und Magar. Saweljew hatte denselben Beutel und Iwan Iwanowitsch sogar zwei Beutel, die mit großem männlichen Heftstich genäht waren. Unser vierter, Fedja Schtschapow, hatte seine Grütze leichtsinnig in die Taschen seiner Steppjacke geschüttet, und den Klarzucker hatte er in den Fußlappen gewickelt. Die herausgerissene Innentasche der Steppjacke diente Fedja als Tabaksbeutel, in den er sorgfältig gefundene Kippen legte.
Die Zehntagesrationen sahen erschreckend aus: man mochte nicht denken, daß all das in ganze dreißig Teile zu teilen war, wenn wir frühstücken, mittagessen, abendessen, und in zwanzig Teile, wenn wir zweimal am Tag essen wollen. Brot hatten wir für zwei Tage dabei, dann wird es der Vorarbeiter bringen, denn auch die kleinste Arbeitergruppe ist undenkbar ohne Vorarbeiter. Wer er war, interessierte uns überhaupt nicht. Man hatte uns gesagt, wir sollten, bis er eintraf, die Unterkunft vorbereiten.
Wir alle waren das Barackenessen leid, wo wir jedes Mal hätten weinen können angesichts der an Stöcken in die Baracke getragenen Suppenbehälter. Wir hätten weinen können aus Furcht, daß die Suppe zu dünn sein würde. Und wenn ein Wunder geschah und die Suppe war dick, dann glaubten wir es nicht und aßen sie vor Freude ganz, ganz langsam. Doch auch nach einer dicken Suppe blieb im angewärmten Magen ein nagender Schmerz — wir hungerten schon lange. Alle menschlichen Gefühle und Regungen – Liebe, Freundschaft, Neid, Menschenfreundlichkeit, Barmherzigkeit, Ruhmsucht, Ehrlichkeit – hatten uns verlassen mit dem Fleisch, das wir während unseres anhaltenden Hungerns verloren hatten. In der geringen Muskelschicht, die wir noch auf den Knochen hatten, die uns noch erlaubte, zu essen, uns zu bewegen, zu atmen und sogar Stämme zu zersägen, Gestein und Sand in die Schubkarren zu schaufeln und sogar die Schubkarren über den endlosen hölzernen Steg in der Goldgrube, auf dem schmalen Holzweg zur Waschvorrichtung zu schieben, in dieser Muskelschicht hatte nur Erbitterung Platz — das langlebigste menschliche Gefühl.
Saweljew und ich hatten beschlossen, uns jeder für sich zu ernähren. Die Zubereitung von Essen ist ein Häftlingsgenuß der besonderen Art; das mit nichts zu vergleichende Vergnügen, die eigene Nahrung eigenhändig zuzubereiten und sie dann zu essen, auch wenn sie schlechter zubereitet ist, als das die geschickten Hände des Kochs getan hätten — unsere kulinarischen Kenntnisse waren armselig, unsere Kochkünste reichten nicht mal für eine einfache Suppe oder Grütze. Und dennoch sammelten Saweljew und ich die Konservendosen, reinigten sie, rösteten sie am Lagerfeuer ab, ließen etwas quellen, kochten etwas auf und lernten voneinander.
Iwan Iwanowitsch und Fedja warfen ihre Lebensmittel zusammen, Fedja drehte sorgfältig seine Taschen um und grub, jede Naht untersuchend, mit dem schmutzigen, abgebrochenen Fingernagel jedes Körnchen hervor.
Alle vier waren wir hervorragend gerüstet für die Reise in die Zukunft — ob eine himmlische oder irdische. Wir wußten, wie die wissenschaftlich begründeten Verpflegungsnormen aussahen, wie die Substitutionstabelle, aus der hervorging, daß ein Eimer Wasser vom Kaloriengehalt hundert Gramm Öl ersetzt. Wir hatten Demut gelernt, wir hatten verlernt, uns zu wundern. Wir hatten keinen Stolz, keine Eigenliebe, keinen Ehrgeiz, und Eifersucht und Leidenschaft erschienen uns als Begriffe von einem anderen Stern und obendrein als Dummheiten. Wesentlich wichtiger war es, die Fertigkeit zu gewinnen, im Winter bei Frost die Hosen zuzuknöpfen — erwachsene Männer weinten, wenn ihnen das mitunter mißlang. Wir verstanden, daß der Tod kein bißchen schlimmer ist als das Leben, und fürchteten weder das eine noch das andere. Eine große Gleichgültigkeit beherrschte uns. Wir wußten, daß es uns freisteht, dieses Leben schon morgen zu beenden, und manchmal beschlossen wir, es zu tun, und jedesmal hinderten uns irgendwelche Kleinigkeiten, aus denen das Leben
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