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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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besteht. Mal würde heute das »Lädchen« ausgegeben, das Kilo Prämienbrot, es war einfach dumm, sich an einem solchen Tag umzubringen. Mal hatte der Stubendienst aus der Nachbarbaracke für den Abend etwas zu rauchen versprochen, zum Begleichen einer alten Schuld.
    Wir hatten erkannt, daß das Leben, selbst das schlechteste, aus einem Wechsel von Freuden und Nöten, von Glück und Pech besteht, und man muß nicht fürchten, daß das Pech öfter vorkommt als das Glück.
    Wir waren diszipliniert und gehorchten der Leitung. Wir hatten erkannt, daß Wahrheit und Lüge Schwestern sind, daß es Tausende Wahrheiten gibt auf der Welt...
    Wir hielten uns beinahe für Heilige und dachten, wir hätten in den Lagerjahren für all unsere Sünden gebüßt.
    Wir hatten gelernt, die Menschen zu verstehen, ihre Handlungen vorauszusehen, zu erraten.
    Wir hatten erkannt – und das war das Allerwichtigste –, daß unsere Menschenkenntnis uns im Leben nichts nützt. Was habe ich davon, daß ich die Handlungen eines anderen Menschen verstehen, fühlen, erraten, voraussehen kann? Denn mein eigenes Verhalten ihm gegenüber kann ich nicht ändern, ich werde einen Gefangenen wie mich selbst nicht denunzieren, was immer er tut. Ich werde den Posten eines Brigadiers nicht anstreben, der die Möglichkeit gibt, am Leben zu bleiben, denn das schlimmste im Lager ist es, einem anderen Menschen, einem Häftling wie dir, den eigenen (oder irgendeinen fremden) Willen aufzuzwingen. Ich werde nicht nach nützlichen Bekanntschaften suchen und Bestechungsgelder verteilen. Und was habe ich davon, daß ich weiß, daß Iwanow ein Schuft ist, Petrow ein Spion und Saslawskij ein falscher Zeuge?
    Die Unmöglichkeit, gewisse Waffenarten einzusetzen, macht uns schwach gegenüber einigen unserer Pritschennachbarn. Wir haben gelernt, uns mit Kleinem zu begnügen und über Kleines zu freuen.
    Wir haben auch eine erstaunliche Sache erkannt: in den Augen des Staates und seiner Vertreter ist ein physisch starker Mensch besser, tatsächlich besser, moralischer und wertvoller als ein schwacher Mensch, einer, der nicht zwanzig Kubikmeter Erdreich pro Schicht aus einem Graben ausheben kann. Der erste ist moralischer als der zweite. Er erfüllt die »Norm«, das heißt, er erfüllt seine wichtigste Pflicht vor dem Staat und vor der Gesellschaft und wird darum von allen geachtet. Mit ihm berät man sich und rechnet man, ihn bittet man zu Besprechungen und Versammlungen, die in ihrer Thematik weit entfernt sind von Fragen des Aushebens von schwerem glitschigem Erdreich aus feuchten schlüpfrigen Gräben.
    Dank seiner physischen Vorzüge verwandelt er sich in eine moralische Kraft bei der Lösung der zahlreichen täglichen Fragen des Lagerlebens. Wobei er eine moralische Kraft so lange bleibt, bis die physische Kraft ihn verläßt.
    Der Ausspruch Pawels des Ersten, »In Rußland ist adelig, mit wem ich spreche und solange ich mit ihm spreche«, erhielt in den Minen des Hohen Nordens überraschend eine neuen Sinn.
    Iwan Iwanowitsch war die ersten Monate seines Lebens im Bergwerk ein Bestarbeiter gewesen. Jetzt, wo er schwach war, konnte er nicht begreifen, warum ihn alle fortwährend schlugen — nicht schmerzhaft, aber schlugen: der Vorarbeiter, der Friseur, der Arbeitsanweiser, der Älteste, der Brigadier, der Begleitposten. Außer den Amtsträgern schlugen ihn auch die Ganoven. Iwan Iwanowitsch war glücklich, daß er an diese Außenstelle im Wald geschickt wurde.
    Fedja Schtschapow, ein Jugendlicher aus dem Altajgebiet, wurde schneller als die anderen zum
dochodjaga
, weil sein halbkindlicher Organismus noch im Wachstum war. Deshalb hielt sich Fedja etwa zwei Wochen weniger als die anderen, kam schneller von Kräften. Er war der einzige Sohn einer Witwe, und verurteilt war er wegen illegalen Schlachtens von Vieh — ein einziges Schaf hatte Fedja abgestochen. Diese Schlachtungen waren gesetzlich verboten. Fedja bekam zehn Jahre, und die Arbeit im Bergwerk, unter Zeitdruck und der Landarbeit so ganz unähnlich, fiel ihm schwer. Fedja begeisterte sich für das ungebundene Leben der Ganoven im Bergwerk, doch es lag etwas in seiner Natur, das ihn hinderte, sich mit den Dieben zu befreunden. Dieser gesunde bäuerliche Zug, eine natürliche Liebe zur Arbeit und nicht Abneigung dagegen, half ihm ein wenig. Er, der Jüngste von uns, schloß sich sofort dem Ältesten, dem Reifsten von uns an — Iwan Iwanowitsch.
    Saweljew war Student des Moskauer Fernmeldeinstituts, mein

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