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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Zellengenosse aus dem Butyrka-Gefängnis. Aus der Zelle hatte er, erschüttert von dem, was er sah, einen Brief an den Parteiführer geschrieben, als treuer Komsomolze, in der Überzeugung, daß der Führer in Unkenntnis gehalten werde. Sein eigener Fall war vollkommen nichtig (Briefwechsel mit der eigenen Verlobten), der Vorwurf der Agitation (Artikel 58, Punkt io) wurde durch die Briefe von Braut und Bräutigam belegt; seine »Organisation« (Punkt II desselben Artikels) bestand aus zwei Personen. All das wurde in vollem Ernst in die Verhörformulare eingetragen. Trotzdem dachten wir, daß Saweljew, selbst nach den damaligen Maßstäben, nur die Verbannung bekommen würde.
    Bald nach dem Abschicken des Briefs, an einem der »Eingabetage« im Gefängnis, wurde Saweljew auf den Korridor gerufen und mußte einen Bescheid unterschreiben. Der Oberste Staatsanwalt ließ wissen, er selbst werde die Prüfung seines Verfahrens vornehmen. Danach wurde Saweljew nur ein einziges Mal gerufen — zur Aushändigung des Urteils eines Sonderkonsiliums: zehn Jahre Lager.
    Im Lager lief Saweljew sehr schnell »auf Grund« . Bis heute hat er diese finstere Abrechnung nicht verstanden. Wir beide waren nicht eigentlich befreundet, wir sprachen einfach gern über Moskau — seine Straßen, seine Denkmäler, die von einer dünnen Ölschicht überzogene, perlmuttern schimmernde Moskwa. Weder Leningrad noch Kiew, noch Odessa haben solche Verehrer, Kenner, Liebhaber. Wir konnten endlos von Moskau reden.
    Wir stellten den mitgebrachten kleinen Kanonenofen in die Hütte und heizten ihn ein, obwohl Sommer war. Die warme trockene Luft war von ungewöhnlichem, wunderbarem Aroma. Wir alle waren es gewöhnt, den sauren Geruch von getragenen Kleidern, von Schweiß zu atmen — nur gut, daß Tränen keinen Geruch haben.
    Auf den Rat Iwan Iwanowitschs zogen wir die Wäsche aus und vergruben sie über Nacht in der Erde, jedes Hemd, jede Hose einzeln, und ließen nur einen kleinen Zipfel herausschauen. Das war ein Hausmittel gegen Läuse, im Bergwerk waren wir im Kampf gegen sie machtlos. Tatsächlich hatten sich die Läuse am Morgen an den Hemdzipfeln gesammelt. Der Dauerfrostboden taute hier im Sommer doch so weit auf, daß man die Wäsche vergraben konnte. Natürlich war das der hiesige Boden, mehr Steine als Erde. Doch auch auf diesem steinigen, vereisten Boden wuchsen dichte Wälder von riesigen Lärchen mit Stämmen von drei Faden Umfang — so groß war die Lebenskraft der Bäume, ein gewaltiges lehrreiches Beispiel, das die Natur uns gab.
    Die Läuse verbrannten wir, indem wir die Hemden an ein schwelendes Scheit aus dem Feuer hielten. Leider vernichtete diese scharfsinnige Methode die Nissen nicht, und am selben Tag kochten wir die Wäsche lange und grimmig in großen Konservendosen — diesmal glückte die Desinfektion.
    Die wunderbaren Eigenschaften des Bodens lernten wir später kennen, als wir Mäuse, Krähen, Möwen, Eichhörnchen fingen. Das Fleisch sämtlicher Tiere verliert seinen spezifischen Geruch, wenn man es zunächst in der Erde vergräbt.
    Wir sorgten dafür, daß unser Feuer nie erlosch, denn wir hatten nur einzelne Streichhölzer, die Iwan Iwanowitsch bei sich trug. Er hatte die kostbaren Streichhölzer aufs sorgfältigste in ein Stückchen Zelttuch und in Lappen gewickelt.
    Jeden Abend legten wir zwei verkohlte Holzscheite zusammen, und sie schwelten bis zum Morgen, ohne zu verlöschen oder zu verbrennen. Wären es drei Scheite gewesen, wären sie verbrannt. Dieses Gesetz kannten Saweljew und ich noch aus der Schulzeit, und Iwan Iwanowitsch und Fedja kannten es aus ihrer Kindheit, von zu Hause. Morgens bliesen wir auf die Scheite, ein gelbes Feuer flammte auf, und auf das brennende Feuer packten wir einen dickeren Stamm...
    Ich teilte die Grütze in zehn Teile, aber das war zu schrecklich. Die Operation der Speisung der Fünftausend mit fünf Broten war wahrscheinlich leichter und einfacher zu bewerkstelligen, als wenn ein Häftling seine Zehntagesration in dreißig Portionen teilen muß. Rationen und Karten gab es immer zehnerweise. Auf dem Festland hatte man sich von allen »Fünftagewochen« und »Dekaden« längst verabschiedet, hier aber hielt sich das Zehnersystem viel zäher. Niemand hielt hier den Sonntag für einen Feiertag — freie Tage für Gefangene, die sehr viel später nach unserem Leben und Treiben in der Wald-Außenstelle eingeführt wurden, gab es dreimal im Monat nach dem Gutdünken der lokalen Leitung, die

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