Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
schüttelte den Schnee von seinem grünen, ein klein wenig rötlichen Kleid. Einen, zwei Tage später wechselte der Wind, und warme Luftströme brachten den Frühling.
Das Krummholz war ein sehr feines Instrument und so empfindlich, daß es sich manchmal täuschte — sich im Tauwetter erhob, wenn das Tauwetter anhielt. Bevor das Tauwetter einsetzte, erhob es sich nie. Doch noch ehe die nächste Abkühlung kam, legte es sich eilig wieder in den Schnee. Und auch das konnte sein: am Morgen machst du ein richtiges Feuer, um dir zu Mittag Hände und Füße daran zu wärmen, legst reichlich Holz auf und gehst zur Arbeit. Zwei, drei Stunden später streckt das Krummholz seine Äste unter dem Schnee hervor und richtet sich langsam auf, weil es denkt, der Frühling ist da. Doch noch ehe das Feuer erloschen war, lag das Krummholz wieder im Schnee. Der Winter hier ist zweifarbig — blaßblauer hoher Himmel und weiße Erde. Im Frühling kommt das schmutzig-gelbe Gelump des vorjährigen Herbstes zutage, und die Erde bleibt lange, sehr lange in dieses ärmliche Gewand gehüllt, bis das neue Grün an Kraft gewinnt und alles erblüht — eilig und ungestüm. Und mitten in diesem trostlosen Frühling, im unbarmherzigen Winter, funkelte hell und blendend grün das Krummholz. Noch dazu wuchsen Nüsse daran, kleine Zirbelnüsse. Diese Lekkerei teilten sich Menschen, Tannenhäher, Bären, Eichhörnchen und Streifenhörnchen.
Wir wählten einen Platz auf der windstillen Seite der Kuppe, schleppten Äste herbei, kleine und größere, und rupften trockenes Gras auf den Kahlstellen, dort, wo der Wind den Schnee davongefegt hatte. Aus der Baracke hatten wir einige schwelende Holzscheite mitgebracht, die wir vor unserem Aufbruch zur Arbeit aus dem brennenden Ofen gezogen hatten — Streichhölzer gab es hier nicht.
Die Scheite trugen wir in einer großen Konservendose mit daran befestigtem Drahthenkel und achteten sorgfältig darauf, daß sie unterwegs nicht erloschen. Ich zog die Scheite aus der Dose, blies sie an und legte die glimmenden Enden aneinander, bis sie brannten, dann legte ich die Scheite auf Zweige, schichtete trockenes Gras und Astwerk darüber — zu einem Lagerfeuer. All das wurde mit dicken Ästen bedeckt, und bald stieg zaghaft ein blaues, vom Wind gezaustes Rauchfähnchen auf.
Ich hatte noch nie in einer Brigade gearbeitet, die Krummholznadeln sammelt. Das Sammeln geschah von Hand, die trockenen grünen Nadeln wurden, wie die Federn beim Wildgeflügel, per Hand, die soviel wie möglich packte, gerupft, man stopfte die Nadeln in Säcke und übergab den Ausstoß am Abend dem Vorarbeiter. Dann wurden die Nadeln in ein geheimnisvolles Vitaminkombinat gefahren, wo sie zu einem dunkelgelben, dicken und zähen Extrakt von unbeschreiblich widerlichem Geschmack zerkocht wurden. Diesen Extrakt zwang man uns vor jedem Mittagessen zu trinken oder zu essen (jeder, wie er konnte). Sein Geschmack verdarb uns nicht nur das Mittag-, sondern auch das Abendessen, und viele sahen in dieser Therapie ein weiteres Mittel des Lagerregimes. Ohne ein Gläschen dieser Arznei bekam man in den Kantinen kein Essen, darauf wurde streng geachtet. Der Skorbut war überall, und die Zirbel war das einzige von der Medizin gebilligte Mittel gegen Skorbut. Glaube versetzt Berge, und obwohl die vollkommene Untauglichkeit dieses »Präparats« als Skorbutmittel später nachgewiesen wurde und man es aufgab und das Vitaminkombinat schloß, schluckten die Menschen zu unserer Zeit diesen stinkenden Dreck, spuckten aus und genasen vom Skorbut. Oder genasen nicht. Oder schluckten ihn nicht und genasen doch. Überall auf der Welt gab es eine Unmenge Hagebutten, doch niemand verarbeitete sie und nutzte sie als Mittel gegen Skorbut — in der Instruktion aus Moskau war von Hagebutten nicht die Rede. (Ein paar Jahre später begann man Hagebutten vom Festland herbeizuschaffen, doch eine eigene Produktion wurde, soweit ich weiß, niemals eingerichtet.)
Als Träger von Vitamin C galten der Instruktion nur die Nadeln des Krummholzes. Jetzt war ich Erzeuger dieses wertvollen Rohstoffs, ich war entkräftet und von der Goldmine zum Krummholzrupfen versetzt.
»Du gehst ins Krummholz«, hatte der Arbeitsanweiser am Morgen gesagt. »Ich gebe dir ein paar Tage ›Kant‹.«
»Kant« war ein weitverbreiteter Lagerterminus. Er bezeichnet etwas wie eine befristete Erholung, keine komplette Erholungspause allerdings (dann sagt man, er »fläzt sich«, »hat sich für heute
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