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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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nachgedacht! Und habe begriffen, daß das Leben keinen Sinn hat... Keinen Sinn...«
    Da sprang ich aus meiner Grube und war schneller bei ihm, als er sich auf die Begleitposten stürzen konnte. Beide Posten rückten heran.
    »Er ist krank«, sagte ich.
    In diesem Moment hallte die ferne, vom Regen gedämpfte Sirene herüber, und wir machten uns zum Antreten bereit.
    Rosowskij und ich arbeiteten noch eine Weile zusammen, bis er sich vor einen beladenen, bergab fahrenden Förderwagen warf. Er hielt ein Bein unter das Rad, doch der Förderwagen sprang einfach darüber, und es blieb nicht mal ein blauer Fleck. Trotzdem wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Selbstmordversuchs eröffnet, er wurde verurteilt, und wir wurden getrennt, denn es existiert eine Regel, wonach ein Verurteilter nach dem Gerichtsverfahren niemals an den Platz zurückkehrt, woher er gekommen ist. Man fürchtet die Rache im Affekt, am Untersuchungsführer, an den Zeugen. Das ist eine weise Regel. Doch auf Rosowskij hätte man sie nicht anwenden müssen.
    1958

Der Kant
    Die Bergkuppen waren weiß, leicht blaustichig, wie Zukkerhüte. Rund und unbewaldet, waren sie mit einer dünnen Schicht von kompaktem, vom Wind zusammengepreßten Schnee bedeckt. In den Schluchten war der Schnee tief und fest — er trug den Menschen, an den Berghängen aber schien er gewaltige Blasen zu werfen. Das waren Krummholzbüsche, die sich auf dem Boden ausgebreitet und zum Winterschlaf gelegt hatten schon vor dem ersten Schnee. Sie waren es, die wir brauchten.
    Von allen nördlichen Bäumen war mir der liebste das Krummholz, die Zirbel.
    Schon lange verstand und mochte ich jene glückliche Überstürzung, mit der die arme nördliche Natur bestrebt war, ihre schlichte Pracht mit dem Menschen zu teilen, der so arm war wie sie selbst: schnell in allen Blüten für ihn aufzublühen. Binnen einer Woche blühte manchmal alles um die Wette, und kaum einen Monat nach Sommeranfang leuchteten die Berge in den Strahlen der fast nicht mehr untergehenden Sonne rot vor Preiselbeeren und schwarz vor dunkelblauen Blaubeeren. An niedrigen Büschen, man braucht die Hand nicht einmal auszustrecken, reifte die gelbe, große, wäßrige Vogelbeere. Die honigfarbene Berghagebutte — ihre rosa Röschen waren die einzigen Blüten hier, die wie Blüten rochen, alle anderen rochen nur nach Feuchtigkeit, nach Sumpf, und das stand im Einklang mit dem Schweigen der Vögel im Frühling, dem Schweigen des Lärchenwalds, wo den Zweigen langsam grüne Nadeln wuchsen. Die Heckenrose trug ihre Früchte bis in den Frost und streckte uns unter dem Schnee hervor ihre runzligen fleischigen Hagebutten entgegen, deren harte violette Haut süßes dunkelgelbes Fleisch verbarg. Ich kannte die Fröhlichkeit der Weiden, die ihre Färbung im Frühjahr viele Male wechselten, mal dunkelrosa, mal orange, mal blaßgrün, wie überzogen von einer farbigen Haut. Die Lärchen reckten die schlanken Finger mit den grünen Nägeln, das allgegenwärtige fette Weidenröschen bedeckte die Waldbrandbrachen. All das war herrlich, zutraulich, geräuschvoll und eilig, doch all das war im Sommer, wenn das matte grüne Gras sich in den Wiesengrasglanz der bemoosten, in der Sonne leuchtenden Felsen mischte, die plötzlich nicht grau aussahen, nicht braun, sondern grün.
    Im Winter verschwand all das, zugedeckt von holprigem harten Schnee, den der Wind in die Bergschluchten fegte und so zusammenpreßte, daß man zum Besteigen des Berges mit der Axt Stufen in den Schnee hauen mußte. Ein Mensch war im Wald von weitem zu sehen, so kahl war alles. Nur ein einziger Baum war immer grün und immer lebendig, das Krummholz, die immergrüne Zirbel. Das war ein Wetterprophet. Zwei, drei Tage vor dem ersten Schnee, wenn es tagsüber noch herbstlich heiß und wolkenlos war und an den nahen Winter niemand denken wollte, streckte das Krummholz seine riesigen Zweiklafterzweige über die Erde aus, beugte mit Leichtigkeit seinen geraden schwarzen, zwei Faust dicken Stamm und legte sich flach auf die Erde. Es verging ein Tag, ein zweiter, ein Wölkchen erschien, und zum Abend erhob sich ein Schneesturm und fiel der erste Schnee. Zogen aber im Spätherbst tiefhängende Schneewolken auf und blies ein kalter Wind, und das Krummholz legte sich dennoch nicht — dann konnte man sicher sein, daß kein Schnee fällt.
    Ende März oder im April, wenn von Frühling noch nichts zu spüren und die Luft winterlich dünn und trocken war, stand ringsum das Krummholz auf und

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