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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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das Recht besaß, Regentage im Sommer oder zu kalte im Winter auf die freien Tage für die Erholung der Gefangenen anzurechnen.
    Ich hielt diese neue Qual nicht aus und schüttete die Grütze wieder zusammen. Ich bat Iwan Iwanowitsch und Fedja, mich ihnen anschließen zu dürfen, und gab meine Lebensmittel in den gemeinsamen Kessel. Saweljew folgte meinem Beispiel.
    Gemeinsam trafen wir, alle vier, eine weise Entscheidung: zweimal am Tag zu kochen — für dreimal reichten die Lebensmittel einfach nicht aus.
    »Wir werden Beeren und Pilze sammeln«, sagte Iwan Iwanowitsch. »Und Mäuse und Vögel fangen. Und ein, zwei Tage pro Dekade allein von Brot leben.«
    »Aber wenn wir ein, zwei Tage hungern, ehe wir Lebensmittel bekommen«, sagte Saweljew, »wie sollen wir uns zurückhalten, um nicht zu viel zu essen, wenn sie Nahrungsmittel bringen?«
    Wir beschlossen, unter allen Umständen nur zweimal pro Tag zu essen und notfalls stärker zu verdünnen. Denn hier wird uns niemand etwas stehlen, wir haben die volle Norm bekommen: hier gibt es keine versoffenen Köche, keine klauenden Lagerverwalter, keine gierigen Aufseher und Diebe, die die besten Lebensmittel einstecken, kurz, die ganze vielköpfige Leitung, die die Häftlinge ohne jede Kontrolle, ohne jede Angst, ohne jedes Gewissen arm frißt und bestiehlt.
    Vollständig bekommen hatten wir unsere Fette in Gestalt eines Klümpchens hydrierten Öls, Sandzucker – weniger, als ich Goldstaub mit der Schurre auswusch –, Brot — ein klebriges, zähes Brot, an dessen Herstellung große, unnachahmliche Meister der Gewichtsverfälschung arbeiteten, die auch die Chefs der Backstuben nährten. Zwanzig Sorten Grütze, von denen wir nie in unserem Leben gehört hatten: Magar, Weizenhäcksel — all das war über die Maßen rätselhaft. Und fürchterlich.
    Der Fisch, der nach den geheimnisvollen Austauschtabellen das Fleisch ersetzte, war ein ranziger Hering, der unseren erhöhten Eiweißverbrauch auszugleichen versprach.
    Leider konnten uns selbst die vollständig ausgegebenen Normen nicht ernähren und satt machen. Wir hätten dreimal, viermal so viel gebraucht — unsere Organismen waren seit langem ausgehungert. Damals verstanden wir dieses einfache Faktum nicht. Wir glaubten an die Normen — auch die bekannte Köcheweisheit, daß es einfacher ist, für zwanzig Leute zu kochen als für vier, war uns unbekannt. Nur eins war uns vollkommen klar: wir hatten zu wenig Lebensmittel. Das erschreckte uns weniger, als daß es uns wunderte. Wir mußten an die Arbeit gehen, wir mußten eine Schneise durch den Windbruch schlagen.
    Die Bäume sterben im Norden im Liegen wie die Menschen. Ihre riesigen nackten Wurzeln sehen aus wie die Klauen eines gigantischen Raubvogels, der sich an den Stein klammert. Von diesen gigantischen Klauen nach unten, in den Dauerfrostboden, ragten Tausende kleiner Fühler, weißlicher Auswüchse, bedeckt von einer braunen warmen Rinde. Jeden Sommer ging die Vereisung ein klein wenig zurück, und ein Fühler, eine Wurzel, drang sofort in jeden Zentimeter getauter Erde und krallte sich dort mit hauchdünnen Härchen fest. Die Lärchen erreichten ihre Reife mit dreihundert Jahren, langsam erhoben sie ihren schweren, mächtigen Körper auf den schwachen, über den steinigen Boden ausgestreckten Wurzeln. Ein starker Sturm konnte die schwach auf den Beinen stehenden Bäume leicht umkippen. Die Lärchen fielen rücklings um, mit den Köpfen in dieselbe Richtung, und starben ausgestreckt auf einer Schicht von weichem, dickem Moos — hellgrünem und hellrotem Moos.
    Nur die krummen, gewundenen, kleinwüchsigen Bäume, zerquält vom Sichdrehen nach der Sonne, nach der Wärme, hielten sich zäh jeder für sich, fern voneinander. So lange hatten sie den angestrengten Kampf ums Leben geführt, daß ihr gemartertes, verkrumpeltes Holz zu nichts mehr taugte. Der kurze knorrige Stamm, von schrecklichen Auswüchsen umrankt wie zum Schienen irgendwelcher Brüche, taugte nicht zum Bauen, selbst im Norden, der anspruchslos war in bezug auf das Material zum Errichten von Gebäuden. Diese krummen Bäume taugten auch nicht als Brennholz — mit ihrem Widerstand gegen die Axt konnten sie jeden Arbeiter erschöpfen. So rächten sie sich an der ganzen Welt für ihr vom Norden verkrüppeltes Leben.
    Wir hatten den Auftrag, eine Schneise zu schlagen, und gingen tapfer an die Arbeit. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sägten wir, fällten, zerlegten und stapelten. Wir vergaßen

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