Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Literatur der Zukunft.
Doch vielleicht sind Betrachtungen hier nicht angebracht und das Wichtigste — der Versuch, mich zu erinnern, mich an alles, was Marusja Krjukowa betrifft, zu erinnern, eine hinkende junge Frau, die sich mit Veronal vergiftete, die ein paar glänzende, winzige, gelbliche ovale Tabletten gesammelt hatte und schluckte. Das Veronal hatte sie gegen Brot, gegen Grütze, gegen eine Portion Hering bei ihren Bettnachbarn eingetauscht, denen Veronal verschrieben war. Die Feldscher wußten vom Handel mit Veronal und zwangen die Kranken, die Tabletten vor ihren Augen zu schlukken, allerdings hatten diese Tabletten einen festen Überzug, und gewöhnlich gelang es den Kranken, die Tablette in die Backe oder unter die Zunge zu schieben und sie, wenn der Feldscher gegangen war, auf die eigene Hand zu spucken.
Marusja Krjukowa hatte die Dosis schlecht berechnet. Sie starb nicht, sie übergab sich nur, und nach erwiesener Hilfe – einer Magenspülung – entließ man Marusja in die Etappe. Doch all das war lange nach der Geschichte mit der Krawatte.
Marujsa Krjukowa war Ende der dreißiger Jahre aus Japan gekommen. Als Tochter eines Emigranten, der am Stadtrand von Kyoto wohnte, war Marusja mit ihrem Bruder in den Verband »Rückkehr nach Rußland« eingetreten, hatte sich mit der sowjetischen Botschaft in Verbindung gesetzt und 1939 das russische Einreisevisum erhalten. In Wladiwostok wurde Marusja gemeinsam mit ihren Kameraden und ihrem Bruder verhaftet, nach Moskau gebracht, und danach hat sie keinen ihrer Freunde je wiedergesehen.
Während der Ermittlung wurde Marusja ein Bein gebrochen, und als der Knochen zusammengewachsen war, brachte man sie an die Kolyma — zur Verbüßung einer fünfundzwanzigjährigen Haftstrafe. Marusja war eine Meisterin der Handarbeit, sie stickte wunderbar — in Kyoto hatte Marusjas Familie auch von diesen Stickereien gelebt.
An der Kolyma erkannten die Chefs Marusjas Talent sofort. Man zahlte ihr nie für die Stickereien: man brachte ihr ein Stück Brot, zwei Stück Zucker, Papirossy — übrigens hatte sich Marusja das Rauchen nie angewöhnt. Und eine handgearbeitete Stickerei von wunderbarer Qualität und einem Wert von mehreren Hundert Rubeln blieb in den Händen der Chefs.
Als die Leiterin der Sanitätsabteilung von den Fähigkeiten der Gefangenen Krjukowa hörte, wies sie Marusja ins Krankenhaus ein, und von da an stickte Marusja für die Ärztin.
Als ein Telefonogramm an die Sowchose kam, in der Marusja arbeitete, alle Stickerinnen seien mit dem nächsten Fahrzeug an ... zu überstellen, versteckte der Lagerchef Marusja — seine Frau hatte einen großen Auftrag für die Künstlerin. Doch jemand meldete das sofort an die entsprechenden Stellen, und Marusja mußte losgeschickt werden. Wohin?
Über zweitausend Kilometer zieht und schlängelt sich die zentrale Kolyma-Trasse — eine Chaussee zwischen Bergen und Schluchten, »Werstpfähle, Gleise und Brücken...« . Gleise gibt es auf der Kolyma-Trasse nicht. Aber alle zitierten und zitieren hier Nekrassows »Eisenbahn« — wozu ein Gedicht schreiben, wenn es einen durchaus tauglichen Text schon gibt. Die gesamte Straße wurde mit Hacke und Schaufel, mit Schubkarre und Bohrer gebaut...
Alle vier-, fünfhundert Kilometer steht an der Trasse ein »Direktionshaus«, ein superprächtiges Hotel de luxe zur persönlichen Verfügung des Dalstroj-Direktors, das heißt des Generalgouverneurs der Kolyma. Nur er darf, während seiner Reisen durch das ihm anvertraute Gebiet, dort übernachten. Kostbare Teppiche, Bronze und Spiegel. Echte Gemälde — nicht wenige Namen von erstrangigen Malern wie Schuchajew. Schuchajew war zehn Jahre an der Kolyma. 1957 fand auf dem Kusnezkij Most eine Ausstellung seiner Arbeiten statt, sein Buch des Lebens. Es begann mit den hellen Landschaften Belgiens und Frankreichs und einem Selbstporträt im goldenen Harlekinwams. Dann die Magadaner Periode: zwei kleine Porträts in Öl, ein Porträt seiner Frau und ein Selbstporträt in düsteren dunklen Brauntönen, zwei Arbeiten in zehn Jahren. Auf den Porträts — Menschen, die Schreckliches gesehen haben. Außer diesen beiden Porträts Skizzen zu Bühnenbildern.
Nach dem Krieg wurde Schuchajew freigelassen. Er fährt nach Tbilisi — in den Süden, in den Süden, und nimmt den Haß auf den Norden mit. Er malt ein Bild »Stalins Schwur in Gori « — ein liebedienerndes. Er ist gebrochen. Porträts von Stoßarbeitern, Bestarbeitern der
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