Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
fünfhundert Rubel das Päckchen. Die Differenz von hundertvierzig Rubeln wanderte in die Tasche des Gehilfen.
Tante Poljas Hausherr handelte nicht mit Machorka, und überhaupt mußte Tante Polja sich bei ihm nicht mit finsteren Dingen beschäftigen. Tante Polja war eine große Köchin, und in der Kochkunst bewanderte Gehilfen wurden besonders geschätzt. Tante Polja konnte versuchen – und tat das wirklich –, irgendeinem ihrer ukrainischen Landsleute eine leichte Arbeit zu vermitteln oder ihn auf die Liste der Freizulassenden zu setzen. Tante Poljas Hilfe für ihre Landsleute war sehr beträchtlich. Anderen half sie nicht, höchstens mit einem Rat.
Tante Polja arbeitete beim Chef das siebte Jahr und dachte, daß sie all ihre zehn »Jährchen« auskömmlich leben würde.
Tante Polja war ein kalkuliert uneigennütziger Mensch und nahm zu Recht an, daß ihre Gleichgültigkeit gegenüber Geschenken und Geld jedem Chef gefallen müßte. Ihr Kalkül erwies sich als richtig. Sie gehörte zur Familie des Chefs, und es gab schon einen Plan für ihre Freilassung — sie sollte im Bergwerk, wo der Bruder des Chefs arbeitete, als Lkw-Beladerin geführt werden, und das Bergwerk sollte ihre Freilassung beantragen.
Doch Tante Polja wurde krank, es ging ihr immer schlechter, und man brachte sie ins Krankenhaus. Der Chefarzt verfügte, daß Tante Polja ein Einzelzimmer bekam. Zehn Halbtote wurden auf den kalten Korridor geschoben, um Platz zu machen für die Gehilfin des Chefs.
Das Krankenhaus belebte sich. Täglich fuhren in der zweiten Tageshälfte »Willys« vor, fuhren Lastwagen vor; aus dem Führerhaus stiegen Damen in langen Pelzmänteln, stiegen Militärs — alle wollten zu Tante Polja. Und Tante Polja versprach jedem: wenn sie gesund wird, wird sie dem Chef ein Wörtchen sagen.
Jeden Sonntag fuhr eine SIS-110 Limousine durchs Krankenhaustor, man brachte Tante Polja ein Päckchen und ein Briefchen von der Frau des Chefs.
Tante Polja gab alles den Pflegerinnen, sie probierte ein Löffelchen und gab es weiter. Ihre Krankheit kannte sie.
Doch gesund werden konnte Tante Polja nicht. Und da erschien eines Tages im Krankenhaus mit einer Notiz des Chefs ein ungewöhnlicher Besucher — Vater Pjotr, wie er sich dem Arbeitsanweiser vorstellte. Offenkundig wünschte Tante Polja zu beichten.
Der ungewöhnliche Besucher war Petka Abramow. Ihn kannten alle. Vor einigen Monaten hatte er sogar selbst in diesem Krankenhaus gelegen. Jetzt aber war er Vater Pjotr.
Die Visite des Ehrwürdigen versetzte das gesamte Krankenhaus in Aufregung. Offenkundig gibt es in unseren Gegenden Geistliche! Und sie nehmen denen, die das wünschen, die Beichte ab! Im größten Krankenzimmer, Zimmer zwei, wo zwischen Mittag- und Abendessen jeden Tag von irgendeinem der Kranken eine gastronomische Geschichte zum Besten gegeben wurde, und keinesfalls zur Verbesserung des Appetits, sondern aus dem Bedürfnis des Hungernden, mit dem Essen verbundene Emotionen zu wecken — in diesem Zimmer sprach man nur von Tante Poljas Beichte.
Vater Pjotr kam in Schirmmütze und Steppjacke. Seine Wattehosen steckten in schäbigen Kunstlederstiefeln. Die Haare waren kurz geschnitten — für eine Person von geistlichem Stand erheblich kürzer als die Haare der Halbstarken der fünfziger Jahre. Vater Pjotr knöpfte Jacke und Weste auf — ein blauer Russenkittel und ein großes Brustkreuz kamen zum Vorschein. Das war kein einfaches Kreuz, sondern ein Kruzifix — allerdings ein selbstgemachtes, von geschickter Hand, jedoch ohne das nötige Werkzeug gedrechselt.
Vater Pjotr nahm Tante Polja die Beichte ab und ging. Er stand lange auf der Chaussee und hob die Hände, wenn sich ein Fahrzeug näherte. Zwei Lastwagen fuhren vorbei, ohne zu halten. Da zog Vater Pjotr eine fertig gedrehte Papirossa aus der Jacke, hielt sie hoch über seinen Kopf, und schon der erste Lastwagen bremste, und der Fahrer öffnete einladend die Kabinentür.
Tante Polja starb, man begrub sie auf dem Krankenhausfriedhof. Das war ein großer Friedhof am Fuß des Bergs (anstatt »sterben« sagten die Kranken »an den Berg kommen«) mit den Massengräbern »A«, »B«, »W« und »G« sowie einigen sehnenförmig angeordneten Linien von Einzelgräbern. Weder der Chef noch seine Gattin, noch Vater Pjotr waren auf Tante Poljas Beerdigung. Das Beerdigungsritual war das übliche: der Arbeitsanweiser band an Tante Poljas linken Unterschenkel ein Holzplättchen mit einer Nummer. Das war die Nummer ihrer
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