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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Vorführer »spulte« ohne Eile den ersten Teil »ab« und machte Licht im Saal. Da verstanden alle, was los war. Der Wirtschaftsleiter des Krankenhauses, Dolmatow, war im Kino erschienen: er hatte den ersten Teil verpaßt, und der Film wurde von vorn gezeigt.
    Der zweite Teil begann, und alles lief normal. Alle kannten die Gebräuche der Kolyma: die Frontkämpfer schlechter, die Ärzte besser.
    Wenn zu wenig Karten verkauft waren, war die Vorführung für alle offen: die besten Plätze für die Freien — die hinteren Reihen, und die vorderen Reihen für die Häftlinge; Frauen links, Männer rechts vom Gang. Der Gang teilte den Saal kreuzförmig in vier Teile, und das war sehr passend im Hinblick auf die Lagerregeln.
    Die hinkende junge Frau, die auch bei den Filmvorführungen auffiel, wurde ins Krankenhaus gelegt, in die Frauenabteilung. Die kleinen Krankenzimmer waren damals noch nicht gebaut; die gesamte Abteilung war in einem einzigen Militärschlafsaal untergebracht — mindestens fünfzig Betten. Marusja Krjukowa kam zur Behandlung zum Chirurgen.
    »Und was hat sie?«
    »Osteomyelitis«, sagte der Chirurg Walentin Nikolajewitsch.
    »Verliert sie das Bein?«
    »Aber nein, warum verlieren...«
    Ich ging der Krjukowa den Verband anlegen, von ihrem Leben habe ich schon erzählt. Nach einer Woche sank das Fieber, und nach einer weiteren Woche wurde Marusja entlassen.
    »Ich werde Ihnen eine Krawatte schenken, Ihnen und Walentin Nikolajewitsch. Schöne Krawatten werden das sein.«
    »Gut, gut, Marusja.«
    Ein Streifen Seide unter Dutzenden, unter Hunderten Metern Stoff, der im »Haus der Direktion« in etlichen Schichten bestickt und ausgeschmückt wurde.
    »Und die Kontrolle?«
    »Ich frage unsere Anna Andrejewna.«
    So hieß offenbar die Aufseherin.
    »Anna Andrejewna hat es erlaubt. Und ich sticke und sticke und sticke... Ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Dolmatow ist gekommen und hat sie genommen.«
    »Wie, genommen?«
    »Nun, ich habe gestickt. Walentin Nikolajewitschs Krawatte war schon fertig. Und an Ihrer blieb nur noch wenig. Sie ist grau. Die Tür ging auf. ›Sie sticken Krawatten?‹ Er durchsuchte den Nachttisch. Und steckte die Krawatte in die Tasche und ging.«
    »Jetzt wird man Sie wegschicken.«
    »Mich wird man nicht wegschicken. Es gibt noch viel Arbeit. Aber ich wollte Ihnen so gern eine Krawatte...«
    »Macht nichts, Marusja, ich hätte sie doch nicht getragen. Hätte ich sie verkaufen sollen?«
    Zum Konzert der Laienkünstler des Lagers kam Dolmatow genauso zu spät wie ins Kino. Schwerfällig, dickbäuchig über sein Alter hinaus, ging er zur ersten freien Bank.
    Krjukowa erhob sich von ihrem Platz und fuchtelte mit den Armen. Ich begriff, daß sie mir Zeichen machte.
    »Die Krawatte, die Krawatte!«
    Es gelang mir, Dolmatows Krawatte zu betrachten. Sie war grau und kunstvoll bestickt.
    »Ihre Krawatte!«, rief Marusja. »Ihre oder Walentin Nikolajewitschs!«
    Dolmatow setzte sich auf seine Bank, wie in alten Zeiten ging der Vorhang auf, und das Konzert der Laienkünstler begann.
    1960

Goldene Tajga
    Die »kleine Zone« ist das Durchgangslager. Die »große Zone«, das Lager der Bergwerksverwaltung — das sind endlose niedrige Baracken, Häftlingsstraßen, dreifache Stacheldrahtumzäunung und die winterlichen Wachtürme, die an Starenkästen erinnern. In der kleinen Zone gibt es noch mehr Stacheldraht, noch mehr Türme, Türschlösser und Riegel — denn dort leben die Durchreisenden, die Transithäftlinge, bei denen man mit allem rechnen muß.
    Die Architektur der kleinen Zone ist ideal. Eine einzige quadratische Baracke, riesig, mit vierstöckigen Pritschen und »juristisch« mindestens fünfhundert Plätzen. Falls nötig, heißt das, lassen sich Tausende unterbringen. Doch jetzt ist Winter, es gibt wenig Etappen, und die Zone wirkt von innen beinahe leer. Im Inneren ist die Baracke noch nicht getrocknet — weißer Dampf, an den Wänden Eis. Am Eingang hängt eine riesige elektrische Lampe von tausend Candela. Sie brennt mal gelber, mal strahlt sie in blendend weißem Licht — die Stromzufuhr schwankt.
    Am Tag schläft die Zone. In den Nächten gehen die Türen auf, und unter der Lampe erscheinen Männer mit Listen in den Händen und rufen mit heiseren, erkälteten Stimmen Namen auf. Die Aufgerufenen knöpfen die Steppjacken bis oben hin zu, treten über die Schwelle und verschwinden für immer. Vor der Schwelle wartet der Begleitposten, irgendwo keuchen

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