Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Lagerakte. Nach der Vorschrift mußte die Nummer mit einfachem Bleistift geschrieben sein und keineswegs mit Kopierstift wie bei den topographischen Richtkerben im Wald.
Die bewährten Totengräber, die Krankenpfleger, schütteten Tante Poljas dürren Körper mit Steinen zu. Der Arbeitsanweiser steckte ein Stöckchen in die Steine — wieder mit derselben Nummer der Lagerakte.
Es vergingen einige Tage, da erschien Vater Pjotr im Krankenhaus. Er war schon auf dem Friedhof gewesen und schmetterte jetzt im Kontor:
»Ein Kreuz. Es muß ein Kreuz aufgestellt werden.«
»Noch was?«, antwortete der Arbeitsanweiser.
Sie stritten sich lange. Schließlich erklärte Vater Pjotr:
»Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit. Wenn in dieser Woche das Kreuz nicht aufgestellt ist, werde ich mich beim Verwaltungsleiter über Sie beschweren. Wenn der nicht hilft, schreibe ich an den Chef des Dalstroj. Wenn der sich weigert, werde ich mich über ihn beim Rat der Volkskommissare beschweren. Wenn der Rat der Volkskommissare sich weigert, schreibe ich an den Synod«, brüllte Vater Pjotr.
Der Arbeitsanweiser war ein alter Häftling und kannte das »Land der Wunder« gut: er wußte, daß dort die größten Überraschungen passieren konnten. Und nach einigem Überlegen beschloß er, die ganze Geschichte dem Chefarzt vorzutragen.
Der Chefarzt, vormals entweder Minister oder Stellvertretender Minister, riet ihm, sich nicht zu streiten und auf Tante Poljas Grab ein Kreuz aufzustellen.
»Wenn der Pope so überzeugt spricht, dann ist da etwas. Er weiß etwas. Alles ist möglich, alles ist möglich«, brummte der ehemalige Minister.
Das Kreuz wurde aufgestellt, das erste Kreuz auf diesem Friedhof. Es war von weit her zu sehen. Und obwohl es das einzige war, gewann der gesamte Ort das Aussehen eines richtigen Friedhofs. Alle Kranken, die laufen konnten, kamen dieses Kreuz anschauen. Auch ein Täfelchen wurde angeschlagen mit einer Inschrift im Trauerrahmen. Das Fertigen dieser Inschrift wurde einem alten Künstler übertragen, der schon das zweite Jahr im Krankenhaus lag. Eigentlich lag er nicht, sondern wurde für das Krankenbett geführt, und all seine Zeit verwendete er auf die Massenproduktion von drei Arten Kopien: »Goldener Herbst« , »Drei Rekken« und »Der Tod Iwans des Schrecklichen«. Der Künstler schwor, daß er diese Kopien mit geschlossenen Augen malen konnte. Seine Auftraggeber waren die gesamte Siedlungs- und Krankenhausleitung.
Doch das Täfelchen auf Tante Poljas Kreuz zu malen war der Künstler bereit. Er fragte, was er schreiben sollte. Der Arbeitsanweiser wühlte in seinen Listen.
»Ich finde nichts, außer den Initialien«, sagte er. »Timoschenko P. I. Schreib: Polina Iwanowna. Gestorben dann und dann.«
Der Künstler, der mit seinen Auftraggebern niemals diskutierte, schrieb es so. Doch nach genau einer Woche erschien Petka Abramow, das heißt Vater Pjotr. Er sagte, daß Tante Polja nicht Polina, sondern Praskowja hieß, und nicht Iwanowna, sondern Iljinitschna. Er teilte ihr Geburtsdatum mit und verlangte, es auf die Grabinschrift zu setzen. Die Inschrift wurde im Beisein Vater Pjotrs korrigiert.
1958
Die Krawatte
Wie soll ich von dieser verfluchten Krawatte erzählen?
Es ist eine Wahrheit besonderer Art, es ist die Wahrheit der Wirklichkeit. Doch es ist kein Essay, sondern eine Erzählung. Wie soll ich sie zu einem Stück Prosa der Zukunft machen — zu etwas wie die Erzählungen Saint-Exupérys, der uns die Luft hat entdecken lassen?
Früher wie heute muß der Schriftsteller, wenn er Erfolg haben will, so etwas wie ein Ausländer sein in dem Land, von dem er schreibt. Er muß vom Standpunkt der Menschen — ihrer Interessen, ihres Horizonts — schreiben, unter denen er aufwuchs und seine Gewohnheiten, seinen Geschmack, seine Ansichten erwarb. Der Schriftsteller schreibt in der Sprache jener, in deren Namen er spricht. Und nicht mehr. Wenn aber der Schriftsteller das Material zu gut kennt, verstehen ihn jene nicht, für die er schreibt. Der Schriftsteller hat sie verraten, hat sich auf die Seite seines Materials geschlagen.
Man darf das Material nicht zu gut kennen. Das taten alle Schriftsteller der Vergangenheit und der Gegenwart, doch die Prosa der Zukunft verlangt etwas anderes. Dort werden nicht die Schriftsteller sprechen, sondern Spezialisten, die schriftstellerisches Talent besitzen. Und sie werden nur davon erzählen, was sie kennen und gesehen haben. Glaubwürdigkeit, das ist die Stärke der
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