Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
falsche Zeugen, Verleumder, die er unter den hungernden Häftlingen anwarb. Einigen von ihnen redete er ein, daß der Staat diese Lügen brauche, einigen drohte er, einige kaufte er. Er machte sich nicht die Mühe, einen neuen Beschuldigten vor dem Arrest kennenzulernen, ihn zu sich zu rufen, obwohl alle im selben Bergwerk lebten. Vorfabrizierte Protokolle und dazu Schläge erwarteten den Arrestanten im Untersuchungszimmer.
Schtemenko war auch der Chef, der vor drei Monaten beim Besuch unserer Baracke alle Kochgeschirre zerschlagen hatte, die die Häftlinge aus Konservendosen hergestellt hatten — darin kochten sie alles, was sich kochen und essen ließ. Darin trugen sie das Mittagessen aus der Kantine, um es im Sitzen zu essen und um es heiß zu essen, in der Baracke auf dem Ofen gewärmt. Als Verfechter von Sauberkeit und Disziplin hatte Schtemenko eine Hacke verlangt und eigenhändig die Böden der Konservendosen durchstoßen.
Jetzt, als er Andrejew zwei Schritt von sich entfernt sah, griff er an die Pistolentasche, doch beim Anblick der mit Brechstangen und Hacken bewaffneten Menschenmenge ließ er die Waffe doch stecken. Übrigens hatten wir ihm schon die Arme nach hinten gedreht. Das geschah mit Leidenschaft, der Knoten war so fest, daß man das Seil später mit dem Messer zerschneiden mußte.
Anna Pawlownas Leiche legten wir in den Korbschlitten, dann bewegten wir uns Richtung Siedlung, zum Haus des Bergwerkchefs. Nicht alle gingen mit Andrejew dorthin — viele wollten schnell in die Baracke, zur Suppe.
Lange machte der Chef nicht auf, der durchs Fenster die Häftlingsmenge sah, die an der Tür seines Hauses versammelt war. Schließlich konnte ihm Andrejew erklären, worum es ging, und er trat, zusammen mit dem gefesselten Schtemenko und zwei Gefangenen, ins Haus.
Dieses nächtliche Mittagessen dauerte sehr lange. Andrejew wurde irgendwohin gebracht, um seine Aussage zu machen. Doch dann kam er zurück, gab das Marschkommando, und wir machten uns auf den Weg zur Arbeit.
Schtemenko wurde bald wegen Mordes aus Eifersucht zu zehn Jahren verurteilt. Das war die Mindeststrafe. Der Prozeß fand in unserem Bergwerk statt, und nach dem Urteil brachte man ihn irgendwohin fort. Ehemalige Lagerchefs werden in solchen Fällen an speziellen Orten untergebracht — niemand hat sie je in normalen Lagern getroffen.
1956
Tante Polja
Tante Polja starb im Krankenhaus im Alter von zweiundfünfzig Jahren an Magenkrebs. Die Obduktion bestätigte die Diagnose des behandelnden Arztes. Übrigens unterschied sich in unserem Krankenhaus die pathologische Diagnose selten von der klinischen — so ist es in den besten und in den schlechtesten Krankenhäusern.
Tante Poljas Nachnamen kannte man nur im Kontor. Selbst die Frau des Chefs, bei der Tante Polja sieben Jahre lang »Gehilfe« war, das heißt Dienstmädchen, erinnerte sich nicht an ihren eigentlichen Namen.
Alle wissen, was ein Gehilfe oder eine Gehilfin ist, aber nicht alle wissen, zu was sie werden können. Der Vertraute eines unnahbaren Herrschers über Tausende Schicksale; Zeuge seiner Schwächen, seiner dunklen Seiten. Ein Mensch, der die Schattenseiten des Hauses kennt. Ein Sklave, aber auch beständiger Teilnehmer am unterirdischen, untergründigen Wohnungskrieg; wenn nicht Teilnehmer, so zumindest Beobachter der häuslichen Schlachten. Der heimliche Schiedsrichter im Streit zwischen Mann und Frau. Wirtschafter im Haushalt der Familie des Chefs, der seinen Reichtum mehrt, und nicht nur durch Sparsamkeit und Ehrlichkeit. Einmal handelte ein Gehilfe zugunsten seines Chefs mit Machorka-Papirossy und verkaufte sie den Häftlingen für zehn Rubel pro Stück. Das Lageramt für Maße und Gewichte hatte festgesetzt, daß in eine Streichholzschachtel Machorka für acht Papirossy paßt, und ein Achtel Machorka besteht aus acht solchen Streichholzschachteln. Diese Maße für Schüttgut galten auf einem Achtel des Territoriums der Sowjetunion — in ganz Ostsibirien.
Der Erlös für ein Päckchen Machorka, das der Gehilfe verkaufte, betrug sechshundertvierzig Rubel. Doch auch diese Ziffer war noch nicht, wie man sagt, das Limit. Man konnte die Streichholzschachteln nicht ganz voll machen — der Unterschied ist kaum zu erkennen, und mit dem Gehilfen des Chefs wird sich auch niemand streiten wollen. Man konnte dünnere Papirossy drehen. Das gesamte Zigarettendrehen war Sache der Hände und des Gewissens des Gehilfen. Unser Gehilfe kaufte die Machorka beim Chef an, für
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