Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Arbeit geben, konnte sie ins Krankenhaus schicken oder sogar einen »Aktenvermerk« machen, das heißt die Invalidität feststellen, und dann mußte der Häftling aufs Festland verschifft werden. Zwar entschied über Krankenhausbett und Akte in der medizinischen Kommission nicht der einweisende Arzt, doch es war wichtig, diesen Weg überhaupt zu beschreiten.
All das und vieles andere, Beiläufige, Alltägliche hatten die Ganoven bestens berücksichtigt und verstanden. Ein besonderes Verhältnis zum Arzt gehörte zum Moralkodex der Ganoven. Neben der Gefängnisration und dem Gentleman-Dieb verfestigte sich in der Lager- und Gefängniswelt die Legende vom Roten Kreuz.
»Rotes Kreuz« ist ein Wort aus der Gaunersprache, und ich wappne mich jedesmal, wenn ich diesen Ausdruck höre.
Die Ganoven zeigten demonstrative Hochachtung vor den medizinischen Mitarbeitern, versprachen ihnen jegliche Unterstützung und nahmen die Ärzte aus der unermeßlichen Welt der »
frajera
« und »
schtympy
« aus.
Eine Legende wurde in die Welt gesetzt — sie kursiert noch heute in den Lagern — wie kleine Diebe, »
sjawki
«, einen Arzt bestohlen hatten und die großen Diebe das Gestohlene ausfindig machten und dem Arzt unter Entschuldigungen zurückbrachten. Haargenau wie in »Die Breguet-Uhr des Monsieur Herriot« .
Mehr noch, sie beklauten die Ärzte wirklich nicht, waren bemüht, sie nicht zu beklauen. Sie machten den Ärzten Geschenke – Sachen, Geld –, wenn die Ärzte Freie waren. Sie bestürmten sie mit Bitten und bedrohten sie mit dem Tod, wenn sie Häftlinge waren. Sie umschmeichelten die Ärzte, die Ganoven geholfen hatten.
Einen Arzt »an der Angel« zu haben ist der Traum jeder Ganovengesellschaft. Ein Ganove kann zu jedem Chef grob und dreist sein (diesen Schick, diese Pose muß er unter bestimmten Umständen sogar ausdrücklich zeigen) — vor dem Arzt aber katzbuckelt der Ganove, kriecht er zuweilen und erlaubt so lange kein grobes Wort über den Arzt, bis er merkt, daß man ihm nicht glaubt und daß niemand vorhat, seine dreisten Forderungen zu erfüllen.
Kein einziger medizinischer Mitarbeiter, heißt es, muß sich im Lager um sein Schicksal sorgen, die Ganoven unterstützen ihn materiell und moralisch: die materielle Hilfe, das sind gestohlene »Klamotten« und »Pluder«, die moralische Hilfe — der Gauner beehrt den Arzt mit seinen Gesprächen, seinem Besuch und seinem Wohlwollen.
Es braucht nicht viel, um anstelle eines kranken, von der Arbeit, die über seine Kräfte geht, von Schlaflosigkeit und Schlägen erschöpften
frajers
, einen kerngesunden Mörder, Päderasten und Erpresser ins Krankenhaus zu legen. Ihn ins Krankenbett zu legen und so lange dort zu halten, bis er selbst sich gnädig entlassen läßt.
Es braucht nicht viel, um die Ganoven regelmäßig von der Arbeit zu befreien, damit sie »den König am Bart halten« können.
Die Ganoven per ärztlicher Einweisung in andere Krankenhäuser zu verlegen, wenn sie das für irgendwelche höheren Ganovenzwecke brauchen.
Simulierende Ganoven zu decken, und die Ganoven sind sämtlich Simulanten und Übertreiber, mit ihren ewigen »provozierten« trophischen Geschwüren an Schienbein und Schenkel, mit den leichten, aber eindrucksvollen Schnittwunden am Bauch etc.
Die Ganoven mit »Pülverchen«, »Kodeinchen« und »Koffeinchen« zu bewirten und damit den gesamten Vorrat an Narkotika und Alkoholtinkturen für den Bedarf der eigenen Wohltäter anzuweisen.
Viele Jahre in Folge nahm ich im großen Lagerkrankenhaus Transporte in Empfang — hundert Prozent der auf ärztliche Einweisung kommenden Simulanten waren Ganoven. Entweder kauften die Ganoven den örtlichen Arzt oder schüchterten ihn ein, und der Arzt schrieb ein falsches medizinisches Dokument.
Oft war es auch so, daß der örtliche Arzt oder der örtliche Lagerchef, in dem Wunsch, das leidige und gefährliche Element in seinem Bereich loszuwerden, die Ganoven ins Krankenhaus überwies und hoffte, seinem Bereich, auch wenn sie nicht ganz verschwinden, doch eine gewisse Atempause zu verschaffen.
Ließ ein Arzt sich kaufen, war das schlecht, sehr schlecht. War er aber eingeschüchtert, dann war es verzeihlich, denn die Drohungen der Ganoven sind keineswegs leere Worte. An die Sanitätsstelle des Bergwerks »Spokojnyj«, wo es viele Ganoven gab, hatte man vom Krankenhaus den jungen Arzt und, vor allem, noch jungen Häftling Surowyj abkommandiert, einen frischen Absolventen der Moskauer
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