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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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sie ihre Haare wieder los und ging von der Rolltreppe über den blankgefegten Steinboden ins Freie. Als sie draußen stand, drehte sie sich um, und Yoshihiro stand etwasabseits und schaute sie an, mit einem vollkommen entleerten Gesichtsausdruck.
    Sie ging einen Schritt auf ihn zu, bis sie so nah bei ihm war, dass er flüstern konnte: »Genau so hatte ich ihn mir vorgestellt: blütenweiß, ohne ein einziges Mal, nur dieser rote Flaum, der nach oben führt – dreifach gebündelt.«
    Sie schloss die Augen. Sie wollte so etwas nicht hören. Sie hatte genug Probleme, sie wollte nach Hause.
    »Bringen Sie mich bitte zurück?« fragte sie, ohne Luft zu holen.
    Und er nahm sie an die Hand, ganz brüderlich, so als hätte er nicht gerade von den Schattierungen ihres Körpers gesprochen, und setzte sie in ein Taxi. Er nahm vorne Platz, dort, wo niemand Platz nahm, weil die Passagiere im Fond saßen.
     
    Als sie eine Weile gefahren waren, drehte er sich zu ihr um und sagte leise und zärtlich und mit größtmöglicher Diskretion in der Stimme: »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
    Und sie gab eine Antwort, über die sie sich selbst wunderte: »Manchmal öffnet es einem die Augen.«
    Yoshihiro drehte sich wieder um: »Und was haben Sie gesehen?«
    Unbeschriebene Orte meines Körpers, wollte sie sagen, aber sie schüttelte nur den Kopf.
    »Wer sind Sie?« fragte er, »das ist die viel bessere Frage.«
    Sie schwieg.
    Die andere Frau, dachte Alison, die andere Frau ist da.

6    Spuren im Schnee

 
    Fritz?«
    »Yoko? Bist du wieder da? Wie geht’s?«
    »Ich bin gerade gelandet, sitze im Taxi.«
    »Schön, dass du anrufst. Wie geht’s Alison?«
    »Die hab ich verloren.«
    »Verloren?«
    »Erzähl ich dir später. Hast du Zeit?«
    Sie zögerte: »Ich ...«, eigentlich wollte sie heute mit Tom verreisen, eigentlich sollte heute der Tag sein, an dem sie als werdende Familie verreisten, aber es war schon Mittag, und Tom hatte sich nicht gemeldet und ... »ja, warum?«
    »Ich muss meine Wohnung streichen«, sagte Yoko.
    »Noch weißer?« fragte Friederike.
    »Nein, hellgrün, hellblau, hellbraun. Ich kaufe die Farben gleich noch.«
    »Was ist passiert?« fragte Friederike.
    Kurze Pause.
    »Ich war zu Hause«, sagte Yoko dann, »und jetzt bin ich wieder hier und brauche Farben, sonst war die ganze Reise umsonst.«
    »Ich auch«, sagte Friederike, »bis gleich«, und legte auf.
     
    Friederike kaufte auf dem Weg zu Yoko einen Schwangerschaftstest. Sie fuhr dafür zu einer weit entfernten Apotheke, weil sie in den umliegenden Apotheken schon so oft einen Test geholt hatte, dass sie die Blicke der Apothekerinnen fürchtete.
     
    »Bevor wir mit dem Malen loslegen, muss ich noch was machen«, sagte Friederike, als sie zur Tür hereinkam, und kramte den Test aus ihrer Tasche.
    »Bist du schwanger?« fragte Yoko.
    Friederike schaute sie an.
    »Du bist schwanger«, sagte Yoko.
    »Ich glaube«, sagte Friederike, »ich glaube nicht, wahrscheinlich hab ich mir mal wieder was eingeredet. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Ich hab alles vermasselt mit Tom. Ich müsste bald meine Tage bekommen, aber die sind ja auch nicht regelmäßig, und wenn, dann wäre es noch schlimmer als ...«
    »Mach erst mal den Test«, sagte Yoko, »du redest wie Britney Spears im Straßengraben.«
    Friederike ging Richtung Badezimmer, drehte sich noch einmal um und sagte: »Wenn ich jetzt nicht schwanger bin, dann ...«
    Dann würde es nichts mehr werden, dann wäre Schluss. Tom hatte sein Fahrrad sicherlich über alle Berge geschoben, und einen anderen Mann wollte sie nicht, oder würde sie nicht finden, oder ...
    »Darüber musst du jetzt noch nicht nachdenken«, sagte Yoko und schob Friederike Richtung Bad.
     
    Friederike verschwand und wartete auf den rosa Strich, der auf dem kleinen, dünnen Streifen erscheinen sollte, auf dem Streifen, der viel zu fadenscheinig war, um eine solche Entscheidung zu tragen. Ein rosa Strich, der ihr Leben verändern würde. Aber: noch nicht einmal die Fata Morgana eines rosa Strichs. Nichts färbte sich, das Weiß blieb so rein wie die ungeschriebenen Seiten ihrer Promotion, wie Neuschnee, wie ...
     
    Er erschien.
     
    Zuerst ganz sachte, dann schnell deutlicher, dann kaum noch wegzuleugnen, bis er fast banal in seiner Deutlichkeit einfach dastand. Gerade, rosa, unbeweglich. Der rosa Strich. Der rosa Strich durchzog das Weiß. Keine Fata Morgana, ein Strich.
     
    Sie war schwanger.
     
    Sie

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