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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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hier die gleichen Weißwaren wie draußen in den Schaufenstern, aber in einem kolossalen Ausmaß, von einem Ende dieser ungeheuren Halle bis zum anderen war alles weiß. (...) Eine Verschwendung von Weißem, dessen Helle so blendete, dass man Einzelheiten kaum unterscheiden konnte. (...) Im Gewühl dieser weißen Artikel, in der scheinbaren Unordnung dieser Gewebe, die wie aus den Fächern herausgerissen schienen, lag unendliche Harmonie.
     
    Der weiße Rausch der Waren. Aber das Weiß erschreckte sie heute, als sei es leblos und abgestorben. Sie hatte nicht einmal Lust auf Schnee. Sie wollte Frühling, endlich Frühling. Weiß erschien ihr auf einmal wie ein Erstarrungsmittel, Welten entfernt von dem Entgrenzungszauber, den es so lange für sie innegehabt hatte. Das Weiß der Lawine. Im Bauch des weißen Wals. Und sie mittendrin. Kein Horizont mehr. Lauert doch in der innersten Vorstellung von diesem Farbton etwas Ungreifbares, das die Seele stärker in Panik versetzt als jenes Rot des Blutes. »Sie lebt in ihren Texten ... Lebt sie denn dann überhaupt?« flüsterte sie.
    »Morgen ist ein neuer Tag«, hörte sie die Stimme von Salman Rushdies Tante antworten.
    Sie seufzte und flüsterte zurück: »Danke.«
    Hinter ihren Lidern verschwand das Schwarz, und die Farben des golddurchwirkten Saris schimmerten hindurch, den die Tante extra für sie angezogen hatte und der alle Farben des Regenbogens in sich trug.

 
    Als Alison mit Yoshihiro die Rolltreppe zur U-Bahn hinunterfuhr, stand er hinter ihr und fragte, indem er sich etwas über ihre Schulter beugte: »Wissen Sie inzwischen, was Sie hier suchen?«
    »Zwischendurch ...«, sagte sie, dann brach sie den Satz ab. Sie konnte nicht weitersprechen. An ihr zog ein Plakat vorbei. Auf dem Plakat saß Bill Murray in einem Sessel und hielt ein dickwandiges Whiskeyglas in die Kamera. Es war genau dieser Blick, über den sie im Film so gelacht hatte. Sie fuhr fort: »Jetzt weiß ich es nicht mehr so genau. Zwischendurch wusste ich es. Da habe ich meinen Mann gesucht und eine Frau ...«
    »...die ihr Mann gefunden hat?« fragte er.
    Sie machte eine Pause. Hatte sie ihm schon etwas von dieser Geschichte erzählt?
    Ihn schien nichts zu wundern, alles war für ihn gleich wahrscheinlich, die allergrößten Mysterien und der U-Bahn-Fahrplan. Die Ausdruckslosigkeit, die zwischen seinen Handlungen lag, war dabei so transparent, als könne er sich vollkommen entleeren, ohne dabei verloren zu gehen.
    Die Ansage einer japanischen Maschinenstimme war inzwischen erklungen und dauerte immer noch an. Was waren das nur für Ansagen, die hier dauernd aus den Lautsprechern tönten?
    »Wozu braucht ihr diese langen Sätze eigentlich?« fragte sie.
    »Finden Sie sie lang? Wir geben schließlich nicht nur Informationen weiter wie die Amerikaner. Wir sagen, was wir sagen wollen und wo wir stehen. Dann schwächen wir den Satz wieder etwas ab, um den anderen entwischen zu lassen, falls ihmetwas unangenehm ist. Lang? Ich finde das elegant. Mögen Sie Miniröcke? Ich finde sie schrecklich. Ich mag lange, schmale Röcke mit langen, verdeckten Öffnungen, von denen man nicht einmal ahnen kann, wo sie enden. Und ungefähr so sind unsere Sätze. Und ungefähr so sind Sie auch.«
    Was? Gleich waren sie unten angekommen. Wer?
    »Wer sind Sie eigentlich?« fragte sie jetzt, ohne sich umzudrehen.
    Er wartete, bis die Lautsprecherstimme seine letzte Volte geschlagen hatte, dann sagte er: »Wenn ich irgendetwas sein möchte seit gestern, dann das, was Sie suchen.«
     
    Die Rolltreppe entlud sie im Untergeschoss der U-Bahn, sie hatte keinen Schritt getan, sie war über die kleine Schwelle geglitten und stand nun da. Und auf einmal waren überall Menschen, die ihre Wege gingen und Geraden und Diagonalen in den Raum schnitten. Sie drehte sich um und sprang mit einem Satz auf die Rolltreppe, die wieder nach oben führte. Yoshihiro war ihr offenbar gefolgt, um nach ein paar Sekunden wieder genau hinter ihr zu stehen.
    »So ist es viel besser«, sagte er, seinen Mund nun an ihrem Nacken. »Würden Sie bitte Ihre Haare hochnehmen?«
    Alison zögerte kurz. Den Nacken zu zeigen war eine der erotischsten Gesten, die eine Frau im traditionellen Japan machen konnte.
    »Machen Sie bitte«, sagte Yoshihiro. »Wir sind gleich wieder oben, und ich kann das nicht noch einmal fragen.«
    Sie nahm ihre Haare mit beiden Händen hoch und blieb eine Weile so. Er blieb hinter ihr, ganz nah, ohne sie zu berühren. Dann ließ

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