Durch Zeit und Raum
und Beezie unangemessen erschien; an Zillahs Tagebuch war er jedoch nicht interessiert.
Frau Maddox betrachtete es traurig. »Ich weiß, daß es seinen Wert hat. Vater wüßte, wem ich es anbieten könnte. Wenn mir nur der Name des Mannes einfiele, der den Roman von Matthew Maddox gekauft hat!«
Aber Chuck war von Herzen froh, daß das herrliche Tagebuch keinen Abnehmer gefunden hatte. Großmutter nähte aus einem alten Kissenüberzug eine Hülle, die den beschädigten Ledereinband schützte, und Beezie bestickte sie mit zwei Schmetterlingen in Blau und Gelb. Ihr war das Tagebuch nicht weniger lieb als Chuck.
Sie teilten ihren Schatz – und auch die Briefe – mit der Großmutter. Wenn sie die Wäsche stopfte oder die Hemden plättete, lasen sie ihr vor, bis auch die alte Frau in den Bann seines Zaubers geriet. Die Gegenwart war so düster, daß alle drei immer häufiger Zuflucht in der Vergangenheit suchten.
Beezie und Chuck hielten nach den kaum noch erkennbaren Fundamenten hinter dem Laden Ausschau. »Hier muß das Haus gestanden haben. Die Maddox wohnten nicht über dem Laden, wie jetzt wir.«
»Das hieße aber, daß unsere heutige Wohnung damals ein Teil des Ladens war.«
»Ich wüßte gern, was mit dem Haus geschehen ist.«
»Das werden wir wohl nie erfahren.«
»Ich habe in der Leihbücherei nach den Romanen von Matthew Maddox gefragt«, sagte Chuck. »Die Bibliothekarin sagt, die hätten sie längst nicht mehr. Sie glaubt, jemand hat sie gestohlen. Dafür gab sie mir ein paar Bücher über Vespugia. Komm, wir gehen rauf und schauen sie uns an.«
Sie verglichen die Fotos in den Büchern mit den Bildern auf den letzten Seiten von Zillahs Aufzeichnungen. Dort hatte sie versucht, mit Tusche und Wasserfarben nachzugestalten, was Bran in seinen Briefen beschrieb. Zillahs Darstellungen endloser Weiten, die sich terrassenförmig bis an die steilen Berge der Anden erstreckten, zeigten den Kindern eine Welt, die so fremdartig war wie ein außerirdischer Stern.
Beezie hatte im Tagebuch wieder zurückgeblättert und betrachtete jetzt die Skizze eines großen, hageren Indianers mit seltsam blauen Augen, die ein wenig zu eng über der Hakennase standen. Die Bildunterschrift lautete: So male ich mir Gedder aus, den Indianer, der nach Brans Ansicht von Madocs Bruder abstammt .
Chuck suchte einen von Brans Briefen heraus und las:
Spürte ich doch nur eine größere Nähe zu Gedder, der sich so offensichtlich zu Gwen hingezogen fühlt! Ich schäme mich meiner, wenn ich an das viele Gute denke, das er uns tat. Hier im Klima von Vespugia muß ganz anders gebaut werden als bei uns daheim oder auch in Wales; und mir schaudert bei der Vorstellung, welche Unterkünfte wir errichtet hätten, wäre nicht Gedder gewesen, um uns zu zeigen, wie man den Wind ins Haus läßt, statt ihn sich fernzuhalten. Auf gleiche Art unterwies er uns beim Anbau der Felder, da sich hierzulande mit Kohl und Rüben nur wenig ausrichten läßt. Und an den unerläßlichen Windschutz hätten wir selbst nie gedacht. Alle Indianer haben uns geholfen, aber Gedder mehr als die anderen. Doch nie sah ich ihn lachen.
»Ich würde keinem trauen, der nie lacht«, sagte Chuck und legte den Brief zurück.
Einige Tage später fand Beezie gleich nach der Schule eine Beschäftigung als Babysitter, und an ihrer Stelle nahm Chuck den Platz hinter der Kasse ein. Er stellte sich vor, er sei Matthew Maddox und der Laden sei viel größer und ginge ausnehmend gut. Die Großmutter nähte und plättete für fremde Leute, und ihre alten Hände standen nie still. Für eine Tasse Tee zwischendurch und fürs Geschichtenerzählen war jetzt keine Zeit mehr.
Immer tiefer verstrickte sich Chuck in seine Fantasien. Für ihn waren Matthew und Zillah, Bran und Gwen, Gedder und Zillie lebendiger als die wirklichen Menschen, die ihn umgaben – ausgenommen nur Beezie und die Großmutter.
Eines Abends blieb Frau Maddox noch lange im Laden. Chuck war bei den Nachbarn gewesen, um für sie Holz zu hacken. Als er heimkam, saßen Beezie und die Großmutter bei Tisch und tranken Kräutertee. »Großmutter«, sagte er, »ich habe Hunger!« Sein Magen knurrte, denn zu Mittag hatte es bloß Suppe und trockenes Brot gegeben.
Die alte Frau starrte ihn an, ohne auf seine Worte zu achten. »Duthbert Mortmain kam Mutter besuchen«, sagte sie. »Sie sind unten im Laden.«
»Ich mag ihn nicht«, erklärte Beezie.
»Du wirst ihn wohl mögen müssen«, erwiderte die Großmutter.
»Warum?«
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